Zu Beginn des neuen Jahres ein neuer Blogger bei kreuz&queer. Wie ihr an meinen Angaben zur Person seht, offenbar ein "alter Hase" der Schwulenbewegung. Zugegeben: Es gibt ältere "Hasen" - auch unter den schwulen Kollegen im Pfarrdienst.
Aber ja: Vieles, was heute in der Szene und in der Gesellschaft (und auch in vielen Kirchengemeinden) selbstverständlich erscheint, habe ich mit aufgebaut oder erkämpft: In den 80er Jahren das Schwulenreferat an der Uni in Erlangen und den lesbisch-schwulen Sportverein in Nürnberg. Anfang der 90er Jahre dann die Öffnung der meisten evangelischen Landeskirchen gegenüber Lesben und Schwulen. In meiner bayerischen Landeskirche stand ich damals nach Theologiestudium und Promotion mit an vorderster Front - und für mich war klar: Entweder sagt unsere Synode eindeutig "Ja" zu Lesben und Schwulen oder ich werde nicht in den kirchlichen Dienst gehen. Versteck Spielen ist nicht meine Sache...
Wir waren dann eine der ersten Landeskirchen, die klar und deutlich gesagt haben, dass Diskriminierung und Ausgrenzung von Homosexuellen ein geschichtlicher Irrweg war und dass Lesben und Schwule auf allen Ebenen der kirchlichen Arbeit als Mitarbeitende willkommen sind. Selbstverständlich war das dann allerdings noch lange nicht: Bei Stellenbesetzungen wurde nicht nur der Kirchenvorstand um ein Votum gebeten, sondern auch die Nachbar-Kolleg_innen, Dekan_in und Regionalbischof bzw. -bischöfin, ein Zusammenleben im Pfarrhaus als lesbisches oder schwules Paar blieb uns die ersten Jahre verwehrt. Bei manchem Kollegen und mancher Kollegin ist daran eine Beziehung zerbrochen - bei mir auch.
Heute scheint das Geschichte zu sein: die Landessynode hat vor einigen Jahren dem Zusammenleben im Pfarrhaus zugestimmt, auch eine Trans-Kollegin ist in ihrer Gemeinde völlig akzeptiert, Lesben und Schwule sind in den kirchenleitenden Organen vertreten. Als ich neulich zum queeren Stammtisch der ESG in Bayreuth eingeladen war, wurde mir deutlich, wie selbstverständlich für queere Menschen im Studium heute all das ist, wofür ich noch kämpfen musste. Es schien mir, als erzählte ich von einer anderen Welt.
Aber ist das wirklich alles so selbstverständlich? Die unglaubliche sexuelle Gewalt am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht hat viele in unserem Land sprachlos gemacht: Ist es nicht selbstverständlicher Teil unseres gesellschaftlichen Lebens, dass Frauen alleine und ungefährdet in der Öffentlichkeit unterwegs sein können - oder, wenn sie bedroht werden, auch Hilfe finden? Doch so selbstverständlich ist offenbar auch das nicht: Auch aus anderen Städten kommen jetzt Nachrichten, dass Frauen in der Silvesternacht bedrängt und angegriffen wurden. Und hören wir nicht bei jedem großen Volksfest immer wieder, dass Frauen sich im Bierzelt unwohl gefühlt haben oder es tatsächlich zu Übergriffen gekommen ist?
Hilflos erscheint die Kölner Oberbürgermeisterin, wenn sie in dieser Situation nichts besseres zu sagen weiß, als dass Frauen halt immer eine Armlänge Abstand zu fremden Männern halten sollten - die Süddeutsche Zeitung hat das mit einer bissigen Karrikatur versehen: In einem Bekleidungsgeschäft gibt es da neuerdings "Distanzhalter" zu kaufen, die aussehen wie Ritterrüstungen mit langen Dornen...
Als schwuler Mann kenne ich auch noch solche gut gemeinten Ratschläge - sie helfen nicht, sie machen vor allem deutlich, dass scheinbar Selbstverständliches nicht für alle in unserer Gesellschaft und nicht an allen Orten selbstverständlich ist. Queere Emanzipation ist gerade einmal knappe 50 Jahre alt - vielleicht muss man(n) da tatsächlich noch Nachsicht haben mit einigen, die mit dieser rasanten Entwicklung nicht mitgekommen sind. Die Emanzipation der Frauen ist jedoch deutlich älter - dass sie nun derart bedroht wird, ist erschreckend!
Ich will hier jetzt nicht auf die Frage eingehen, wieweit das, was da in Köln passiert ist, vor allem auf Menschen mit Migrationshintergrund zurück zu führen ist - wer eine Frau im Bierzelt bedrängt, hat diesen eher selten. Worauf es mir ankommt: Die Freiheiten, die wir in unseren westeuropäischen Gesellschaften errungen haben, sind nicht selbstverständlich. Kulturen und Generationen verändern sich, Freiheit und Toleranz müssen immer wieder neu gelernt und eingeübt werden. Wie das gelingt? Sicherlich nicht durch Zwang oder Schuldzuweisungen. Eher schon durch Begegnung - auch wenn diese, wie Köln zeigt, natürlich nicht ungefährlich ist. Ein weniger emotionalisierter und alkoholisierter Kontext hilft da vermutlich... Die Öffnung meiner Landeskirche im Jahr 1993 für Lesben und Schwule war jedenfalls nur aufgrund solch eines Begegnungs-Lernens möglich: Die ablehnende Haltung der konservativen "Fraktion" war in dem Moment gebrochen, als die damalige Vorsitzende der "Fraktion" feststellte, dass ihr ehemaliger Lieblingskonfirmand unter den Lesben und Schwulen ist, die vor dem Plenum demonstrieren. Nach einem langen Gespräch unter vier Augen hat sie ihre Kolleg_innen auf einen Weg der Toleranz gebracht...
"Zur Freiheit hat euch Christus befreit!", schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinden in Galatien (Gal 5,1). Doch auch für Paulus ist es immer wieder ein Kampf, diese Freiheit des Glaubens gegen die zu verteidigen, die ihren Glauben gesetzlicher leben. In Jerusalem streitet er während des Apostelkonzils engagiert für diese Freiheit (Gal 2 und Apg 15). Auch dort lernen die Gruppen voneinander in der Begegnung, so hat man den Eindruck. Das Ergebnis? Zumindest, dass sich beide Gruppen gegenseitig akzeptieren und tolerieren.
Denken wir also daran: Unsere Freiheit ist nicht selbstverständlich - aber es lohnt sich, für sie zu kämpfen und andere für sie zu gewinnen!