Dass "Nachtschicht" bislang noch keinen bedeutenden Fernsehpreis bekommen hat, ist erstaunlich. Wie gut der Ruf der Reihe in der Branche ist, belegt nicht zuletzt die imposante Liste der prominenten Mitwirkenden. Bei der Kernbesetzung gab es im Lauf der Jahre eine erhebliche Fluktuation, aber Armin Rohde war immer dabei. Der Wandel seiner Rolle zeigt, wie sich auch etablierte Figuren entwickeln können: Anfangs stand Erich Bo Erichsen mit mutmaßlich mindestens einem Bein auf der dunklen Seite. Bissige Kommentare hat er nach wie vor drauf, aber ansonsten ruht er mittlerweile in sich selbst.
In der neunzehnten Episode, "Der Unfall", wird der Hauptkommissar gar zum leuchtenden Vorbild, denn Beckers Drehbuch variiert das Krimischema "Guter Bulle, böser Bulle". Der Titel ist geradezu eine Verharmlosung der Ereignisse: Ein vom erfahrenen Einsatzleiter Roland Orbach (Maximilian Brückner) angeführtes Trio soll in einem Containerdorf für Flüchtlinge den Iraner Rostami verhaften. Der Mann hält sich illegal in Deutschland auf und ist schon einmal abgeschoben worden. Er widersetzt sich der Festnahme, es kommt zum Handgemenge.
Nun hält er Orbach dessen eigene Waffe an den Kopf. Erichsen und Tülay Yildirim (Idil Üner) versuchen, die Situation zu deeskalieren. Der Iraner ist ein politischer Flüchtling, kein Krimineller, er vertraut dem Kommissar, der ihm garantiert, dass die Abschiebung erst mal ausgesetzt wird, und lässt die Waffe sinken. In diesem Moment wird er von Orbachs Kollegin Mona Nowak (Rocío Luz) erschossen.
Die erste Viertelstunde des Films erzeugt weitaus mehr Spannung als andere Krimis, doch im Grunde könnte die Geschichte mit Rostamis Tod auch zu Ende sein. Klar, die Polizistin muss mit einem Verfahren rechnen, aber sie war übermüdet und fühlte sich bedroht, weil der Iraner die Pistole in ihre Richtung hielt. Allerdings hat Becker zuvor ein Detail offenbart, von dem Erichsen und Yildirim zunächst nichts ahnen: Bevor Rostami dem Bundespolizisten die Dienstwaffe abnehmen konnte, hat Orbach mit seinem Schlagstock auf den Iraner eingeprügelt. Er weiß natürlich, dass die Obduktion die Misshandlung offenbaren wird, doch so lange es keine Beweise gibt, kann ihm nichts geschehen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Vorfall ist jedoch von einem anderen Flüchtling gefilmt worden. Wie es Becker nun gelingt, dem gewohnt abwechslungsreichen Muster der Reihe treu zu bleiben und dennoch einen ungemein dicht gestalteten, durchgehend fesselnden Film zu erzählen, ist bravourös. Zentrales Element des "Nachtschicht"-Konzepts ist das KDD-Revier, in dem es zugeht wie im Taubenschlag. Hier ergeben sich dank der gläsernen Zelle, in der Erichsen sämtliche Verdächtige unterbringt, die heiteren Momente, die diesmal sparsamer sind als sonst.
Weil Ermittlungen gegen die Bundespolizei nicht in die Zuständigkeit des KDD fallen, zieht Nachtschichtchef Kaplan (Özgür Karadeniz) eine LKA-Kollegin hinzu; auf diese Weise kommt es zu einem erfreulichen Wiedersehen mit Minh-Khai Phan Thi als früheres Teammitglied Mimi Hu. Ebenfalls wieder mit dabei ist Gustav Peter Wöhler als Theo Klein. Der Anwalt vertritt sonst nur Gangster; diesmal ist Orbach sein Mandant. Brückner wiederum gehörte als Bundespolizist bereits in der "Nachtschicht"-Episode "Cash & Carry" (2019) zum Ensemble.
Neben den bekannten Episodengästen zeichnet sich die Reihe zudem durch Beckers Mut zur Besetzung wichtiger Rollen mit kaum bekannten Mitwirkenden aus. Diesmal sind dies Rocío Luz sowie Sogol Faghani als Darstellerin der Witwe: Der Zorn Hasty Rostamis gilt nicht, wie zu erwarten wäre, der Polizistin, sondern dem Einsatzleiter. Wie sich die beiden Frauen zusammenfinden, um dem schon mehrfach wegen Körperverletzung im Amt beschuldigten Orbach zur Strecke zu bringen, ist eine weitere Wende in diesem ohnehin überaus handlungsreichen Polizeifilm.
Sehr präsent ist auch Selam Tadese als "König der Schlepper". Der Rest ist "Nachtschicht" in gewohnter Qualität: Dass sich die verschiedenen Erzähllinien immer wieder überkreuzen, weil sich die meisten Beteiligten schon mal früher über den Weg gelaufen sind, ist zwar ein weiteres Merkmal der Reihe, sorgt aber trotzdem regelmäßig für Verblüffung. Erichsens Verbalscharmützel mit seiner Kundschaft sind ein verlässliches Vergnügen, und handwerklich bewegen sich Beckers Inszenierungen ohnehin auf hohem Niveau.