Ein Brief an Europa

Ein Brief an Europa
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten. Diesmal: Europa.

Liebes Europa,

ich möchte dich so gerne lieben. Ich liebe auf jeden Fall das, wofür du stehen willst: die Freiheit, das Recht, die Demokratie, die unantastbare Würde aller Menschen.

Ich mag deine Landschaften, dein Essen, deine Literatur - und natürlich den Eurovision Song Contest. Ich mag, dass du letztes Jahr ohne Wenn&Aber die Ukraine zur Siegerin des ESC gemacht hast und dass mein Land Deutschland dieses Jahr eine Band in den Wettbewerb schickt, die aussieht wie der Alptraum aller Genderfluiditäts-Feind*innen von Putin über Trump bis zu Beatrix von Storch: Männer in roten Latexanzügen und mit goldenem Lidschatten singen von Blood & Glitter. Und dann heißen sie auch noch „Lord of the Lost“ und „with broken wings (they) learn to fly“ (Leser*innen meiner Texte können sich denken, dass das genau mein Ding ist).

Also, Europa, du bist der Kontinent, auf dem ich leben will. Ich zahle Steuern, ich geh immer wählen und ich versuche, dazu beizutragen, deine Werte zu verteidigen: die Freiheit, das Recht, die Demokratie, die unantastbare Würde aller Menschen. Ich versuche, dazuzulernen und es besser zu machen. Und ich glaube fest, dass das möglich ist. Ich glaube fest, dass es diese Werte sind, die wir brauchen, um durch die Polykrisen zu kommen, die dieses Jahrhundert für uns bereithält. Der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte Michael Blume (CDU) spricht von Arche-Regionen, die entstehen werden, wenn die Klimakatastrophe Teile der Welt endgültig unbewohnbar macht. Du, Europa, sollst so eine Arche-Region sein, dafür bete ich - ein Ort des Lebens und der Rettung vieler. Mit Glitter und Freiheit und mit der Bereitschaft zu teilen, was da ist.

Du aber, Europa - du verrätst diese Hoffnung, die ich in dich setze, immer wieder. Du trittst deine eigenen Werte mit Füßen. Auf viele Arten. Und auf eine vor aller Augen: 70 Menschen sind vor wenigen Tagen an deiner Grenze ertrunken. Schon wieder. Diesmal ganz nah an der italienischen Küste. In einer Turnhalle standen die Särge: braune für die Erwachsenen, weiße für die Kinder. Aus all deinen Ländern kamen die Zugehörigen der Toten. Sie schrieen und weinten. Manche waren ganz still. Ich sehe die Bilder und bin fassungslos, dass du dieses Sterben zugelassen hast. Schon wieder.

Früher war ich wütend, Europa. Heute bin ich stumpf und müde. All diese Menschen hätten gerettet werden können. Und der neofaschistischen italienischen Präsidentin fällt nichts anderes ein, als dass die Fluchtrouten noch rigider geschlossen werden müssen. Und der deutsche Verkehrsminister Volker Wissing (Mitglied einer Partei, die die Freiheit im Namen trägt und außerdem ehemaliger Organist im Nebenamt) will die Sicherheitsvorschriften für private Seenotrettungsschiffe so verschärfen, dass ihre Umrüstung für viele Organisationen nicht finanzierbar sind. Das wird mehr Tote bedeuten. Und alle wissen das.

Liebes Europa, ich bitte dich: Kehr um. Tu Buße. Learn to fly. Sei free to break and change. Die Welt braucht dich. Und G*tt lässt sich nicht spotten.

 

Wochenaufgabe:

Dein Bestes tun. Und beten für die „Lost“.

Wenn du kannst: Spenden - zB für United4Rescue

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