Die kleine Kirche aus den 30er Jahren füllt sich. Die Menschen treten zögernd in den Raum. Sie tun es mit der gleichen Zerknirschtheit und Bedrückung, wie sie es bei einer Trauerfeier tun. Sie begrüßen sich mit bedeutungsvollen Blicken, die ohne Worte die Betroffenheit und auch so etwas wie Trost ausdrücken sollen. Dies ist eine Abschiedsfeier für die Kirche. Eine Trauerfeier für lebenslanges Kirchenleben. Für lieb gewordene Erinnerungen.
Den schönsten Schmuck haben sie aufgelegt, der Weihnachtsbaum leuchtet noch, in den Fenstern stehen Kerzen und Blumen auf dem Altar. So gemütlich haben sie es immer gemocht. Die Feier beginnt wie ein Gottesdienst. Sie machen was sie immer machen. Klänge. Aufstehen, Hinsetzen. Liturgische Abläufe. Heimat gewordene Melodien und Worte. Alles davon ein letztes Mal. Ein allerletztes Mal. Nie wieder wird das Kyrie erklingen, nie wieder das Gloria, das Amen. Predigt und Reden sind voll Rückblicke auf die Verstorbene. Oder Versterbende. Der Todeszeitpunkt ist noch unklar. Niemand weiß, woran er zu bemessen sei. Redner:innen erzählen von der Kirche, als sei sie ihr Leben. Die Menschen seufzen angesichts der Erinnerungen. Sie lächeln unter Tränen bei jeder Anekdote. Ihre Blicke saugen den Raum auf, der sich ihnen bietet. Ein letztes Mal.
Die Kirche stirbt gerade und wir sitzen in ihr. Sie decken noch einmal den Tisch mit Brot und Wein. Halten die Kelche, wie ihre Vorfahren. Weinen dabei. Können Brot und Wein kaum schlucken, so eng ist der Hals. Heute hilft es weniger denn je, denn es wird nicht mehr sein. Nach dem Segen halten sie alle Stücke noch einmal hoch. Die Taufschale. Das Lektionar. Den Kelch. Die Tischgewänder. Sie legen alles in eine hölzerne Kiste. Verschließen den Deckel. Die Osterkerze lassen sie brennen.
Ein Kind nimmt sie und mit der Kiste ziehen sie aus der Kirche. Sie sollen zügig gehen, sagt man, damit man das Licht löschen könne. Aber es dauert. Die Schritte hinaus fallen schwer. Man trödelt und zögert, andere warten längst draußen. Mehrfach müssen die Menschen gebeten werden, doch hinaus zu gehen, damit man abschließen könne. Draußen eine lange Schlange. Zum wirklich allerletzten Mal an der Kirchentür persönlich die Hand gegeben bekommen. Mit Segen und dem Blick in die Augen. Gesehen werden und gespürt werden. Sich etwas sagen. Alle einzeln. Dann erst. Als alle hinaus gegangen sind. Als Kerzen, Lichterketten und die Wandstrahler im Bahnhofsflair gelöscht sind, als der Orgelmotor schweigt, die Türen, eine nach der anderen, zugefallen sind. Dann erst nimmt die Pfarrerin der kleinen Kreuzkirche in M. den unspektakulären Schlüssel. Einen Sicherheitsschlüssel. Unter Gesang und Gebet schließt sie zu. Neben ihr das Kind mit der brennenden Osterkerze.
Wann ist jemand gestorben? fragt die eine Maria die andere. Sie stehen unter dem Kreuz. Sehen Jesus als Lebenden mit Haut und Haar. Sehen die Wärme. Sehen das Blut. Die Augen, die Hände. Er ist noch da. So sehr da. Es ist vollbracht. Wer sagt das? Woher weiß er das? Ist nicht noch Leben in ihm? Aus seiner Seite läuft doch noch Blut. Er ist so gegenwärtig wie immer. Da vor ihnen. Der Jesus in ihnen ist ausschließlich lebendig. Geschichten und Worte, Berührungen, Erlittenes. Es ist alles da. Und sein Tod? Der Tod macht gefühlt nur eine Sekunde ihres gemeinsamen Erlebens aus. Und gleichzeitig soll er endgültig sein. Ihn abnehmen und noch einmal halten. Das brauchen sie. Ein letztes Mal. Sie selbst haben sich das nicht gewünscht. Es ist zur Unzeit gekommen. Ihn ins Grab legen, wo er noch so lebendig erscheint. Den Stein davor rollen, als wolle man sich des Todes versichern.
Die Menschen vor der kleinen Kirche in M. zerstreuen sich nur langsam. „Jetzt, wo das Haus keine Kirche mehr ist“, sagt eine Frau leise zu der Frau neben ihr, „könnte man was draus machen.“ „Ja“, sagt die andere, „da hätte ich Ideen.“
#challenge à la Passionszeit: entdecken, wovon Du Abschied nehmen könntest...
Spoiler: es gibt ein Danach.