Am Anfang war die Handtasche

Spiritus-Blog mit Porträt von Birgit Mattausch
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Spiritus-Blog mit Birgit Mattausch
Geistvoll in die Woche
Am Anfang war die Handtasche
Das sage nicht ich - das sagt Ursula K. Le Guin.

Ursula K. Le Guin (1929 - 2018) schrieb Science-Fiction- und Fantasy-Romane, aber auch theoretische Texte. Sie ist der Meinung, dass die Geschichten, die wir uns erzählen, unser Sein in der Welt entscheidend prägen.

Eine dieser Geschichten ist: Am Anfang der Menschwerdung war die Waffe. Dieses Werkzeug, das dazu da ist, zu jagen und zu töten. In der Bibel tötet ganz zu Anfang Kain Abel. In Stanley Kubricks „Odysee im Weltraum“ wirft ein Affe einen Knochen in die Luft und von dort wird eine Linie gezogen bis zur Eroberung des Weltraums.


Le Guin dagegen sagt: Am Anfang war der Beutel. Ein zusammengerolltes Blatt, ein gebogenes Rindenstück, ein Netz aus Haaren, ein Gefäß, ein Korb. Denn wie hätten die ersten Menschen das, was sie zum Leben brauchten, sonst transportieren sollen? Wie hätten sie gelernt, weiter als bis zum nächsten Moment zu denken?


Der Mensch wird nicht dadurch ein Mensch, dass er töten kann - er wird ein Mensch, weil er eine Handtasche hat.

Die wohl berühmteste Handtasche des 20. Jahrhunderts und eine der teuersten der Welt ist die Birkin Bag von Hermès. Ihre Namensgeberin Jane Birkin pflegte ständig einen Weidenkorb mit sich herumzutragen - selbst zum Abendkleid. Auf einem Flug von Paris nach London lernte Birkin Jean-Louis Dumas, den Geschäftsführer von Hermès kennen. Er versprach ihr, eine Tasche zu designen, in die alles passte. Birkin machte eine Skizze auf einem Spuckbeutel. Der erste Entwurf der Birkin Bag.


Die Birkin wurde zum Statussymbol und zur Geldanlage. Es gibt unzählige Fälschungen und Dupes von ihr. Anfang des Jahres hat Walmart eine 80-Dollar-Variante der Tasche auf den Markt gebracht. Die „Wirkin“ ging sofort viral und die Modejournalist:innen stritten sich, ob dies nun die endgültige Demokratisierung oder das endgültige Ende von Luxus sei.


Jane Birkin selbst benutzte ihre Birkin Bag so, wie sie auch ihren Weidenkorb benutzt hatte: Sie warf und stopfte alles hinein, was sie brauchte, beulte sie aus, stellte sie auf den Boden, schonte sie nicht vor Verkratzungen und hängte jede Menge Anhänger und Erinnerungsstücke an ihre Henkel: „Birkinfy your Bag“.

Ursula K. Le Guin nennt den Weltraum „Sternenbeutel“ und den Roman „einen Sack voller Dinge (…) vollgepackt mit Anfängen ohne Enden, mit Initiationen, Verlusten, Wandlungen und Übersetzungen“.

In diesem Sinne nenne ich für heute die Bibel eine vollgestopfte, ausgebeulte, zerkratzte, dauerbenutzte Birkin Bag. In ihr: die Entstehung der Sterne, das Versprechen von Gerechtigkeit, schreiende Steine, engelsichtige Esel, ein paar dutzend Könige und glücklicherweise auch eine gar nicht so kleine Menge von vielschichtigen Frauen und Leuten anderen Geschlechts. Am Grunde der biblischen Birkin Bag liegen schlafende Samen, winzige Verheißungen eines Blühens, das erst noch kommt. In ihrer Innentasche das eine Grab und die eine Nacht, in der aus dem Ende von allem ein Anfang wurde. Jene Nacht und jener Morgen, für die ich Worte suchen und nicht wirklich finden werde, so lange ich lebe.

Wochenaufgabe: Ein paar Samen in die Lieblingstasche streuen und auf Ostern warten.

Lektüretipp:

Ursula K. Le Guin: Am Anfang war der Beutel. Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft. Think Oya 2021.

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