Pandemie-Geschichte von unten erzählt

Internetseite "Coronarchiv"auf einem Laptob
epd-bild/Heike Lyding/Heike Lyding
Internetbasierte Mitmachprojekt zur Aufarbeitung des Pandemie-Lockdowns 2020.
Digitales Mitmachprojekt
Pandemie-Geschichte von unten erzählt
Wie werden wir uns irgendwann an die Zeit der Pandemie erinnern? Diese Frage stellten sich im März 2020 Historiker von drei deutschen Universitäten und starteten das "Coronarchiv".

Deutschland war im Frühjahr 2020 noch keine zwei Wochen im ersten Pandemie-Lockdown, da eröffneten Historiker das internetbasierte Mitmachprojekt "Coronarchiv": Internetnutzer und -nutzerinnen wurden eingeladen, Fotos, Texte, Bilder, Fundstücke, Gedanken und Videos zur Pandemie einzureichen. "Sharing is caring - become a part of history!" - auf Deutsch etwa: "Teilen ist Kümmern - werde Teil der Geschichte!" - lautete das Motto.

Am 26. März 2020 ging das Projekt der Universitäten Bochum, Gießen und Hamburg, unterstützt von weiteren Institutionen, online - und ist es bis heute. Ziel: möglichst vielfältige und alltägliche Dokumente aus der Krisenzeit zu dokumentieren.

Das traf den Nerv der Zeit: Bereits nach einem knappen halben Jahr berichtete Mit-Initiator Thorsten Logge von der Universität Hamburg in einer Publikation der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in der Hansestadt von 4.500 Einreichungen.

Im "Coronarchiv" geht es um Tagespläne von Familien, die Homeoffice und Homeschooling bewältigen mussten, ebenso wie um Sport in den eigenen vier Wänden. Aber auch ein "Virustagebuch", Fotos von bemalten Steinen und leeren Supermarktregalen oder eine Vorfreude-Zettel-Sammelbox für "die Zeit danach" sind zu finden.

Aktuell sind nach Auskunft von Historikerin Catharina Köhnke mehr als 7.000 Beiträge eingegangen, von denen (Stand 11. März) 6.341 auf die Seite hochgeladen sind. Eine Moderation sortiert beleidigende Inhalte oder Gesetzesverstöße aus. Köhnke, die im Arbeitsfeld Public History der Uni Hamburg als Projektkoordinatorin "CoronArchivare" tätig ist, betont auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) aber: Eine Faktenprüfung durch das Projektteam gebe es nicht. Möglich ist daher, dass auch "Fake News", Äußerungen von radikalen Impfgegnern und Verschwörungserzählungen auf der Seite landen.

Brief an das Corona-Virus: "Du mieses Stück!"

Für den Historiker Malte Thießen sind solche Äußerungen jedoch kein Problem: "Das ist mit Archiven schon immer so gewesen", sagt der Leiter des Instituts für westfälische Regionalgeschichte beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe und Honorarprofessor an der Uni Münster und verweist auf Schilderungen von früheren Zeitgenossen, die aktenkundig, aber nicht konsensfähig seien. "Diese Vielfalt gehört dazu und sie ist sogar eine große Chance", sagt er, denn Auseinandersetzung mit der Geschichte gebiete Differenzierung, also Graustaufen statt Schwarz-Weiß-Malerei.

Auf das "Coronarchiv" übertragen, bedeute das "leider auch, sich mit Verschwörungstheorien auseinander zu setzen, die ja für einen Teil der Bevölkerung sehr attraktiv waren". Ebenso gehörten Impfgegner zur Geschichte dazu.

Zu den Beiträgen, die Nutzer in das Archiv hochluden, zählt auch ein Brief an das Corona-Virus vom 31. März 2020: "Du mieses Stück! Ich schreibe Dir jetzt mal ein paar Dinge, die Dir nicht gefallen werden, aber die mehr als notwendig sind!" schreibt "Ein Mensch" sich seinen Frust über Sars-CoV2 und die Folgen von der Seele. Mit seiner Schlussfolgerung "...denn diese Welt kann voll und ganz auf Deine Existenz verzichten" dürfte er vielen aus dem Herzen gesprochen haben. Der Brief endet mit: "Ohne Gruß - Ein Mensch, der wieder normal leben will".

Für Malte Thießen ist eine "breite Überlieferung" wichtig, "die die Corona-Geschichte auch von unten erzählt, von der Gesellschaft her, nicht nur von oben, von den politischen Vorgaben". Mit dem Archiv der drei Unis "bekommen wir so ein viel besseres Gesamtbild der Pandemie", meint er. Die rein digitale Ausrichtung des "Coronarchivs" passe zur digitalen Kommunikation des 21. Jahrhunderts in Messengerdiensten, auf Social Media und Webseiten.

 

Digital ging es auch los: Ausgangspunkt des Archivs waren zwei Tweets auf Twitter, wie X damals noch hieß, verfasst von Christian Bunnenberg, Juniorprofessor für Didaktik der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum, am 22. März 2020. Als zweiter Initiator schaltete sich Thorsten Logge von der Hamburger Uni in die sich anschließende Twitter-Diskussion ein. Nils Steffen aus Hamburg und Benjamin Roers aus Gießen kamen hinzu. Bereits einen Tag nach Bunnenbergs Tweets berieten die vier Historiker in einer Videokonferenz über die Möglichkeit, eine digitale Plattform einzurichten. Danach dauerte es nur noch wenige Tage, bis das "Coronarchiv" online ging.

"Weltweit gibt es zahlreiche Projekte, die Erinnerungen und Beobachtungen sammeln, die in einem Zusammenhang stehen mit der Ausbreitung von Covid-19", heißt es auf der Projekt-Webseite, und weiter: Das "Coronarchiv" stehe "im Austausch mit verschiedenen internationalen Projekten", um vergleichende Forschung zu ermöglichen. Denn die Geschichte der Pandemie ist noch lange nicht zuende erzählt.