Klemens Ketelhut und ich haben uns auf einer Fachtagung zu Queerer Theologie und Kirche im November 2024 in Stuttgart näher kennen gelernt. Daher duzen wir uns. Aus unseren fachlichen Gesprächen hat sich das folgende Interview zu seiner Forschung zu Konversionsbehandlungen ergeben.
Kerstin: Stell dich doch bitte kurz vor.
Klemens: Gerne, ich bin Bildungs- und Sozialwissenschaftler. Bis Ende 2024 habe ich ein Projekt zur Erforschung von Konversionsbehandlungen geleitet, das erste in Deutschland überhaupt. Ansonsten beschäftige ich mich intensiv mit dem Thema Queere Bildung und bin seit 25 Jahren in unterschiedlichen queeren Kontexten engagiert.
Kerstin: Erzähl uns bitte etwas über dein Forschungsprojekt zu Konversionsbehandlungen.
Klemens: Es handelt sich um ein Projekt mit dem Ziel, Konversionsbehandlungen besser zu verstehen. In Deutschland gab es bis jetzt keine empirische Forschung, also: keine Daten zu Praktiken von Konversionsbehandlungen, der Situation von Überlebenden, der Frage, in welchen Kontexten Konversionsbehandlungen stattgefunden haben und so weiter.
Konversionsbehandlungen in Deutschland sind ein Dunkelfeld und es ging darum, etwas besser zu verstehen, was in diesem Dunkelfeld überhaupt vor sich geht.
Durch eine Förderung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums, war es möglich, dass ich für 27 Monate eine Stelle hatte, auf der ich das Projekt durchführen konnte. Diese Stelle war bei Mosaik Deutschland e.V. in Heidelberg verortet.
Wichtig ist mir, dass ich die ganze Arbeit niemals alleine hätte bewältigen können und ich gleichzeitig das große Glück hatte, drei ehrenamtliche Mitstreiter:innen zu haben, ohne die das Projekt niemals hätte umgesetzt werden können und denen ich dafür sehr dankbar bin.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass das Projekt von Anfang an einen partizipativ und Community-based-Ansatz verfolgt hat. Entsprechend haben wir einen Beirat mit 25 Expert:innen, Vereinen und Institutionen etabliert, der uns bei unterschiedlichen Prozessen intensiv unterstützt und kritisch-würdigend begleitet hat. Den Menschen, die sich dort engagiert haben, danke ich von Herzen.
Kerstin: Hat sich deine Definition von Konversionsbehandlungen im Laufe deiner Forschung verändert und wenn ja, inwiefern?
Klemens: Ich würde tatsächlich eher davon sprechen, dass sich mein Verständnis von Konversionsbehandlungen verändert hat, was auch die Definitionen betrifft. Definitionen hängen immer auch ein bisschen vom Kontext ab, in dem sie gebraucht werden: Die Definition von Konversionsbehandlungen für einen Fragebogen ist eine andere als die für einen Workshop.
Mein Verständnis von Konversionsbehandlungen ist wesentlich differenzierter geworden. Zum einen habe ich verstanden, dass es einen wesentlichen Unterschied macht, ob ich über Konversionsbehandlungen im Kontext der sexuellen Orientierung, also des Begehrens nachdenke oder ob es um das Thema Geschlechtsidentität geht.
Ein weiterer Aspekt ist, dass ich die Gruppe der Menschen auf dem Aspec-Spektrum (Anmerkung der Redaktion: Das aromantische Spektrum - kurz Arospec oder Aspec - umfasst neben Personen ohne romantische Anziehung auch solche, die wenig beziehungsweise selten romantische Anziehung empfinden) als eine wahrnehme, die zum Teil ganz eigene Konversionserfahrungen machen oder gemacht haben – das war mir vor dem Projekt eigentlich gar nicht so klar.
Kurz gesagt: Konversionsbehandlungen sind vielfältig und unterscheiden sich für einzelne Gruppen zum Teil erheblich voneinander. Es gibt aber auch Praktiken, die mehr oder weniger bei allen queeren Menschen vorkommen können. Hier denke ich an die Idee, dass es in bestimmten fundamentalistisch-christlichen Gruppen eine übergreifende Denkfigur gibt, dass queere Menschen dämonisch besessen sind.
Ein zweiter Punkt, der mir in den letzten zwei Jahren klarer geworden ist, ist, dass eine Programmatik und häufig auch bestimmte Handlungsformen vorhanden sein müssen, wenn wir von Konversionsbehandlungen sprechen. Mit Programmatik meine ich, dass es einen normativen Hintergrund gibt, zum Beispiel die Idee, dass jedes nicht-heterosexuelle Begehren eine psychische Störung sei, die behandlungsnotwendig ist. Das sehen wir, wenn Konversionsbehandlungen im Rahmen von Psychotherapien durchgeführt werden.
Kerstin: Welche Rolle spielen religiöse Gemeinschaften/Kirchen in deiner Forschung?
Klemens: Unsere Ergebnisse zeigen, dass religiöse Gemeinschaften und religiöse Führungspersonen eine wichtige Rolle spielen und zwar auf zwei Ebenen: Zum einen gibt es Gruppierungen, die in ihrer Theologie eine klare Idee davon haben, wie eine „gottgewollte“ Gesellschaft aussieht. Diese besteht aus Männern und Frauen, die sich emotional, romantisch und auch sexuell zum heterosexuellen Paar ergänzen, das die einzig mögliche Form des Zusammenlebens darstellt (Ehe).
Wächst also ein Mensch mit solchen Vorstellungen vom „richtigen Leben“ auf, internalisiert er, dass jede Form von Queerness nicht „gottgewollt“ ist.
Und damit zeigt sich dann die zweite Ebene: Der individuelle Mensch kann in solchen Kontexten in ein Spannungsfeld geraten, wenn er zum Beispiel feststellt, dass er mit seinem Begehren und/oder seiner Geschlechtsidentität zum Problem wird. Ich habe mit einigen Überlebenden von Konversionsbehandlungen Forschungsinterviews geführt. Wenn das Aufwachsen in fundamentalistischen religiösen Gruppierungen ein wesentlicher Aspekt in der Biografie war, thematisierte sich immer wieder die Wahrnehmung, dass man als einzelner Mensch eine Entscheidung treffen muss: Entweder man ist Teil der Gemeinde oder man lebt queer. Andere Optionen, zum Beispiel solche, die beides beinhalten, sind hier häufig nicht denkmöglich. Und diese Zuspitzung führt häufig dazu, sich einer Konversionsbehandlung auszusetzen, damit das eigene Leben „als guter Christ“ und das eigene Leben in der Gemeinde nicht gefährdet ist.
Kerstin: Welche (vorläufigen) Ergebnisse zeigt deine Forschung?
Klemens: Das zentrale Ergebnis ist: Konversionsbehandlungen fanden statt und finden statt. Und es gibt bei vielen Überlebenden einen hohen Bedarf, darüber zu sprechen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Das bedeutet zum Beispiel auch, dass es keine Selbstvertretungsorganisation für Überlebende und Betroffene von Konversionsbehandlungen gibt, kaum öffentliches oder gesellschaftliches Wissen. Man könnte sagen, so, wie Konversionsbehandlungen oft im Geheimen stattfinden, so geheim bleiben sie auch in der gesellschaftlichen Debatte.
Ein wichtiges Ergebnis der Forschung ist auch, dass neben den religiösen Kontexten auch medizinisch-therapeutische Kontexte einen wesentliche Rolle spielen. Hier ist es vor allem das Thema Geschlechtsidentität, bei dem manche Therapeut:innen und Patient:innen eher versuchen so zu behandeln, dass sie „doch eigentlich gar nicht richtig trans* sind“. Das ist ein sehr großes Problem und kann auch in Therapien auftauchen, in denen der Grund, aus dem eine Psychotherapie gemacht wird, ein ganz anderer ist – nämlich Depressionen oder Angstzustände oder weiteres.
Ein dritter Punkt, der im ersten Moment banal klingt, es aber nicht ist: Konversionsbehandlungen können nur in einer Gesellschaft stattfinden, in der es eine breit geteilte Idee davon gibt, dass es besser ist, nicht-queer zu sein als queer zu sein. Dieses Wissen nehmen wir alle über sozialisatorische Prozesse auf, egal, welches Begehren und welche Geschlechtsidentität wir haben. Und viele Personen, die an unserer Forschung partizipiert haben, erinnerten sich, dass und welche queerfeindlichen Haltungen sie in ihrer Kindheit und Jugend gehört und aus dieser Zeit mitgenommen haben. Klar ist ja: Niemand käme auf die Idee, dass man das individuelle queer-sein „heilen“ sollte, ohne die Idee, dass man Queersein „heilen“ muss und kann.
Kerstin: Wie geht es jetzt weiter?
Klemens: Im Moment ist die Situation so, dass wir aktuell für das Projekt keine Förderung haben. Arbeit gibt es auf jeden Fall genug, sowohl was neue Projektideen angeht als auch hinsichtlich der Weiterbearbeitung der jetzt schon erhobenen Daten, deren Menge weit über dem Erwarteten liegt.
Ein wichtiger Meilenstein wird die Publikation einer Expertise sein, die die wichtigsten Ergebnisse der Forschung darstellen und aus verschiedenen Perspektiven einordnen wird. Diese ist für das zweite Quartal 2025 geplant.
Ein wichtiges Thema wird dann natürlich sein, neue Fördermittel zu akquirieren, um sowohl auf der Ebene der Forschung als auch der Anwendung intensiv weiterarbeiten zu können. Das bedeutet konkret auch, in den Dialog mit den Kirchen zu treten. Ich glaube, es ist wichtig, auch und gerade dort ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es Konversionsbehandlungen schon immer gab und nach wie vor gibt und dass Kirchen hier eine Verantwortung haben und diese übernehmen sollten.
Kerstin: Welche Forderungen und Wünsche hast du an Kirchen/andere Institutionen für die Zukunft?
Klemens: Gemeinsam mit einer Gruppe von Expert:innen und Überlebenden haben wir ein Forderungspapier entwickelt, das man unter www.befragung-unheilbar-queer.de einsehen kann. Viele wichtige Organisationen aus Deutschland haben sich diesen Forderungen angeschlossen. Im Kern geht es darum, dass erstens der rechtliche Schutz vor Konversionsmaßnahmen auszubauen ist. Wir haben bisher das Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen, das 2020 in Kraft trat. Dieses Gesetz war ein wichtiger erster Schritt, muss jetzt aber ausgebaut und mit weiteren Maßnahmen und entsprechender Finanzierung hinterlegt werden.
Zweitens müssen Betroffene und Überlebende umfassend und rechtlich abgesichert werden. Das bedeutet, dass Menschen, die in einer Konversionsbehandlung sind oder eine solche durchlebt haben, notwendige Hilfe- und Unterstützungsangebote vorfinden. Sei es die konkrete Beratung, die passende Therapie (und falls notwendig, deren Finanzierung) und auch Bildungsangebote, die zur Sensibilisierung von Fachkräften in unterschiedlichen Bereichen beitragen.
Drittens geht es um Bildung, Forschung und Aufklärung. Das sind alles Bereiche, die sich entwickeln müssen und dafür öffentliche Gelder benötigen – sei es, um Forschungsprojekte mit unterschiedlichen Fragestellungen zu finanzieren, sei es, um einen gesellschaftlichen Diskurs zum Thema Konversionsbehandlungen zu initiieren. Es gibt also viel zu tun.
Was mir, abschließend, noch wichtig ist: Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, die Strukturen so zu entwickeln und auszubauen, dass jemand, der von Konversionsbehandlung betroffen ist, niemals das Gefühl haben muss, dieser ausgeliefert zu sein, sondern dass diese Person wahrnehmen kann, dass sie gesehen wird und Hilfe bekommen kann. Denn – auch das ist ein Ergebnis der Studie – viele der Überlebenden von Konversionsbehandlungen leben mit dem Gefühl, allein und zum Teil auch isoliert zu sein. Und das müssen wir ändern!