Wie viel Vielfalt gibt es noch in Europa?

Wie viel Vielfalt gibt es noch in Europa?
epd-Bild/Thomas Ruffer
Kommunen und Kreise in Polen erklären sich zu "LGBT-freien Zonen", Ungarn schreibt die Diskriminierung von Queers in der Verfassung fest - und die EU-Kommission veröffentlicht eine "Strategie für die Gleichstellung von LGBTIQ-Personen". Zugleich versuchen Polen und Ungarn durch ihr Veto zum EU-Haushalt Sanktionen wegen Verletzung grundlegender Rechtsstaatsprinzipien zu verhindern. Kann die EU-Kommission Vielfalt, Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit überhaupt noch garantieren -. oder hat sie die "Seele Europas" längst schon verkauft?

"Ich kenne kein Pardon, wenn es darum geht, eine Union der Gleichberechtigung zu schaffen. Eine Union, in der jeder und jede sich selbst treu bleiben und lieben kann, wen er oder sie will –ohne Angst vor Verleumdung oder Diskriminierung.", so deutliche Worte fand EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen am 16. September dieses Jahres bei ihrer Rede zur Lage der Union. Deutlich, denn sie schloss dabei ausdrücklich Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität oder Orientierung ein.

Was diese Worte gut zwei Monate später noch wert sind, wird sich nicht zuletzt am Umgang der europäischen Staatschefs und Politiker*innen mit Polen und Ungarn - und ihrem durchsichtigen Veto zu dem EU-Haushalt - zeigen: In Ungarn hat das Parlament gerade erst am 10. November mit der Zwei-Drittel-Mehrheit von Viktor Orbans FIdesz-Partei eine Verfassungsänderung beschlossen, durch die die queere Community massiv diskriminiert wird. Zu Elternschaft heißt es nun in der Verfassung: "Die Mutter ist eine Frau und der Vater ist ein Mann.", Regenbogen-Familien sind damit von Rechten praktisch ausgeschlossen. Ebenso legt die Verfassung fest, dass als sexuelle Identität ausschließlich das bei der Geburt festgestellte Geschlecht anzuerkennen sei.

"Ich war geschockt, fühlte mich hoffnungslos, machtlos, ich glaube, ich habe buchstäblich geweint.", zitiert die Tagesschau Vera Gergely, eine schmächtige Frau von Mitte 30, die mit Partnerin und Kind zusammenlebt. Wie schwierig es für Queers unter der Fidesz-Regierung geworden ist, in Ungarn zu leben, dokumentiert eindrücklich das Interview mit Judit Gyarfas, das Kerstin Söderblom vor zwei Wochen in diesem Blog veröffentlicht hat. Das Europäische Forum der LSBTIQ Christ*innen warnt schon seit Jahren vor dem zunehmenden Einfluss ultrakonservativer religiöser Kreise in Osteuropa und der Gefahr, die dadurch für queeres Leben in Osteuropa ausgeht. In der Studie Traditional Values, Religion, and LGBT-Rights in Eastern Europe kommt es schon im Jahr 2014 zu dem Ergebnis, dass "es so aussieht, als ob kein Gesetz religiöse Gemeinschaften dazu zwingen könnte, das zu akzeptieren oder tolerieren, was aus ihrer Sicht in Gegensatz zu fundamentalen religiösen Werten steht. Religiöse Freiheit ist für sie oberstes Gebot, steht über allen sozialen oder gesetzlichen Regeln und Grenzen." Der Kampf gegen Homosexualität werde von diesen Gruppen als Kampf für ihre religiösen Freiheit verstanden (Traditional Values, S. 10).
Inzwischen zeigt sich, dass Neo-Nationalismus und religiöse Rechte zumindest in Polen und Ungarn starke politische Allianzen bilden. In Polen erklären sich auf Betreiben ultra-konservativer christlicher Gruppen immer mehr Landkreise zu LGBT-Ideologie-freien Zonen, und auch die Entwicklung in Ungarn sei absehbar gewesen, meint Queer-Aktivist Tamas Dombos im Tagesschau-Interview: "Leider haben wir in den vergangenen anderthalb Jahre einen Anstieg der politischen Homophobie und Transphobie im Land gesehen. Wir hörten den Parlamentspräsidenten, den Ministerpräsidenten, die Spitzenvertreter von Fidesz, die wirklich homophobische und transphobische Wörter gesagt haben." Nur dadurch, dass sie einen vermeintlichen Feind beschwöre, könne die Fidesz-Regierung seit Jahren von ihrer eigenen Unfähigkeit ablenken, meint Domos: "Sie brauchen einen Feind, gegen den sie kämpfen können. In der Vergangenheit waren es die Obdachlosen, Migranten und Asylbewerber; es war Soros, die EU", so Dombos. "Sie brauchen immer einen Feind, das ist die Logik ihres Handelns. Einen Feind, den sie zum Teil erschaffen und dann bekämpfen können. Und bedauerlicherweise befürchten wir, dass wir jetzt der Feind sind. Es ist die LGBT-Gemeinschaft, die nun der Feind Nummer 1 des Staates wird."

Nur zwei Tage nach der Verfassungsänderung in Ungarn hat die Europäische Kommission eine Strategie für die Gleichstellung von LGBTIQ-Personen 2020-2025 beschlossen und an das Europäische Parlament zur Beratung weiter geleitet. Das Papier beginnt mit dem Zitat aus Ursula von der Leyens Rede zur Lage der Union, das auch am Anfang dieses Blogs steht. ILGA, Vereinigung euroäischer Regenbogen-Aktivist*innen, feiert das Dokument als "signifikaten Schritt zu mehr LGBT-Rechten in Europa": Die Strategie komme "zu einem ganz entscheidenden Zeitpunkt, an dem immer mehr Mitgliedsstaaten ganz ausdrücklich gegen LGBT-Rechte agieren", betont die Organisation auf ihrer Webseite.

Die zentralen Ziele, welche die Strategie formuliert, sollten in der europäischen Wertegemeinschaft eigentlich selbstverständlich sein:
- DIskriminierung von LGBTIQ-Personen bekämpfen
- Sicherheit von LGBTIQ-Personen gewährleisten
- Gesellschaften aufbauen, die LBGTIQ-Personen einschließen
- eine Führungsrolle bei der Förderung der Gleichberechtigung von LGBTIQ_Personen in der ganzen Welt einnehmen

Um diese Ziele zu erreichen, sieht die Strategie unter anderem vor, queere Organisationen stärker zu fördern, Bildungs- und Bewusstseinsarbeit unter jungen Queers zu stärken und Queerness als Asylgrund anzuerkennen. Dies sind Schritte, bei denen die Kommission relativ schnell aktiv werden kann - und die natürlich zu begrüßen sind. Spannend wird es allerdings, wenn die Kommission auf S. 14 mit Blick auf die Kampagenen insbesondere in Polen betont: "'LGBT-freie Zonen' sind humnaitätsfreie Zonen und haben in unserer Union keinen Platz". Hier darf man gespannt sein, wie die Kommission die entsprechenden Kommunen und Kreise zur Vernunft rufen will: ein Ausschluss aus der Union ist ja nicht einmal für Nationalstaaten möglich, die die grundlegenden Rechtsstaatsprinzipien der Lissaboner Verträge missachten!
Wenn Polen und Ungarn einen Haushaltsentwurf mit ihrem Veto blockieren, weil dieser Sanktionen bei der Verletzung der Rechtsstaatsprinzipien vorsieht, dann ist wohl nicht zu erwarten, dass sie die heren Ziele der LGBTIQ-Strategie freiwillig umsetzen oder gar Kommunen maßregeln und dazu aufheben, diskriminierende Beschlüsse aufzuheben.

Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung und Vielfalt bilden die DNA der Europäischen Union. Deswegen steht zu hoffen, dass die Regierungschefs und das Europäische Parlament in den nächsten Wochen allen Versuchungen widerstehen, die polnisch-ungarische Blockade durch Zugeständisse auf Kosten der Vielfalt, der Gleichberechtigung oder der Rechtsstaatlichkeit zu lösen. Dies zu tun, hieße, die Seele Europas zu verkaufen!

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