Das scheinbar Selbstverständliche...

Das scheinbar Selbstverständliche...
"Reisen bildet", sagt das Sprichwort. Reisen macht nachdenklich, findet Wolfgang Schürger. Nachdenklich über Selbstverständlichkeiten, die so selbstverständlich gar nicht sind.

Fronleichnam ist Feiertag in Bayern. Relativ kurzfristig ergibt sich für mich die Möglichkeit, einen Freund in Saigon, Vietnam, zu besuchen. Bezahlbar ist der Kurztrip auch, denn eine Fluggesellschaft bietet die Strecke fast zur Hälfte des Preises aller anderen an: Qatar-Airways. Ich bin in solchen Fällen meist vorsichtig, recherchiere im weltweiten Netz: Die Fluggesellschaft ist in den letzten Jahren regelmäßig als eine der besten weltweit ausgezeichnet worden!

Der Flug ist eine Umsteigeverbindung über Doha, Katar. Die Maschine ab München ein nagelneuer A350, super freundliches Personal. Alles bestens also. Im Ankunftsvideo vor Doha dann der Hinweis: Passagiere, die sich im Transit befinden, können alkoholische Getränke weiterhin mitführen, solange sie in versiegelten Tüten bleiben. Wer nach Katar einreist, müsse aber davon ausgehen, dass jeglicher Alkohol konfisziert werde. Ich nutze die Umsteigezeit, um die Lebenssituation in Katar zu recherchieren: Ein Emirat am Persischen Golf mit rund 2 Mio Einwohner_innen, weiß Wikipedia zu vermelden - mit einem der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt, aber auch mit dem weltweit höchsten CO2-Ausstoß, noch weit vor den USA oder Deutschland. Gleich zu Beginn heißt es auch, dass die Scharia die Hauptquelle der Gesetzgebung sei. Alkohol habe ich zwar keinen im Gepäck, aber vielleicht ganz gut, als schwuler Mann nur im Transit zu sein! Und richtig: "Homosexualität ist verboten", heißt es in einem eigenen Beitrag dazu. Um die Menschenrechte scheint es in dem Emirat generell nicht so gut bestellt zu sein, die Vereinten Nationen, so heißt es wieder im Hauptbeitrag, hätten im Zusammenhang der Arbeiten für die Fußballweltmeisterschaft 2022 festgestellt, dass ausländischen Arbeitnehmern zum Teil monatelang der Lohn vorenthalten werde. Die Fluggesellschaft gehört dem Staat - "Was für einen Staat unterstütze ich da eigentlich?", frage ich mich.

Die Situation in Vietnam ist da doch deutlich anders: Lesben und Schwule können sich zumindest in den Großstädten frei und ungezwungen bewegen, auch Arm in Arm. Die Haltung der Regierung und die Stimmung in der Bevölkerung habe sich in den letzten 10 Jahren massiv geändert, erzählt mein Freund. Einen gay pride gebe es allerdings noch nicht, dafür fahre er mit Freunden meist nach Thailand. Er sei stolz, dass Thailand und Vietnam damit zu den fortschrittlichen Ländern in Südostasien gehören. Und richtig: In Singapur, Indonesien oder Malaysia sieht die Situation für LGBTQs schon wieder ganz anders aus.

Allerdings: Auch Vietnam hat seine Schattenseiten. Wir kommen auch auf HIV und Aids zu sprechen. Ja, die Regierung habe die Herausforderung erkannt, sagt mein Freund - aber medizinische Behandlung gibt es bis jetzt nur mithilfe des Aids-Programms der Vereinten Nationen. Ein Freund von ihm arbeitet in diesem Programm. "Die haben viel zu wenig Mittel, um alle, die infiziert sind, mit Medikamenten zu versorgen. Auf Hilfe aus dem UN-Programm kannst du nur hoffen, wenn es dir schon wirklich schlecht geht!" Mein Freund kann daher nicht verstehen, dass in Deutschland oder den USA immer mehr schwule Männer auf geschützen Sex verzichten - "Selbst wenn es PREP gibt, ich könnte mir diese Medikamente nicht leisten, auch nicht zu den günstigeren Preisen in Thailand!"

Ein Kurztrip um die halbe Welt, der mir (wieder einmal) gezeigt hat, wie privilegiert wir in Deutschland sind: Unsere medizinische Versorgung ist immer noch sehr gut und auch um die individuellen Freiheitsrechte werden wir von vielen beneidet. Über rund 150 Jahre haben vorausgegangene Generationen diese Rechte und diesen Wohlfahrtsstaat erkämpft - bei dieser Reise ist mir wieder neu bewusst geworden, was für ein hohes Gut er ist!

Wie können wir andere unterstützen, die noch für diese Freiheit kämpfen müssen? Ich bin froh über die verschiedenen internationalen Netzwerke, die wir auch als LGBTQs inzwischen haben. ILGA und andere unterstützen Aktivistinnen und Aktivisten in Ländern, in denen Queers noch verfolgt werden. In unseren kirchlichen Netzwerken bin ich für jeden und jede dankbar, die Homophobie in anderen Kirchen deutlich beim Namen nennt. Ein Freund von mir hat das neulich in einem Facebook-Post erfreulich offen getan und all seine methodistischen Facebook-Freunde weltweit daran erinnert, dass sie nicht weiter mit seiner Unterstützung in internationalen Fragen rechnen könnten, wenn sie gleichzeitig ständig "darüber hinwegesehen", das er ein schwuler Mann sei - den sie in ihrer Heimatkirche nicht dulden würden. Solche deutlichen Worte wünsche ich mir auch, wenn in der Diskussion um die Trauung/Segnung von Lebenspartnerschaften immer wieder darauf hingewiesen wird, dass das in der weltweiten Ökumene nicht vermittelbar sei. Die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau hat diese Worte in Art. 258 ihrer neuen Lebensordnung aus dem Jahr 2013 gefunden!

Fragen sollten wir uns aber auch, wen und welche Institutionen bzw. Unternehmen wir als LGBTQs besser nicht unterstützen - wenn dieser Blog online geht, dann werde ich gerade auf dem Rückflug von Saigon sein. Ich werde wieder in Doha umsteigen und vermutlich wieder einen guten Service genießen. Aber sehr wohl ist mir bei dem Gedanken nicht, dass mit dem Geld, das ich dafür nach Katar gezahlt habe, dann vielleicht Menschenrechte an anderer Stelle missachtet werden.

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