"Prüfet alles und das Gute behaltet!" (1. Thess 5,21) - in vielen Neujahrsgottesdiensten war die Jahreslosung 2025 Grundlage für die Predigt, auch hier auf evangelisch.de findet sich eine facettenreiche Übersicht. Ich will dennoch eine weitere, queere Perspektive auf dieses Pauluswort wagen.
Ich kann dieses Losungswort nicht lesen, ohne dabei an so einige politische Ereignisse des letzten Jahres zu denken. Meine Auslegung wird daher eine sehr politische Auslegung. Ich denke an Ereignisse, die in mir die Frage haben laut werden lassen, ob meine Zeitgenoss:innen das Prüfen, das Paulus fordert, vielleicht verlernt haben:
Vor der Landtagswahl in Thüringen warnen mehrere Industrie- und Wirtschaftsverbände, aber auch einzelne Unternehmen mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Anzeigen vor einem Sieg der "Blauen", da die Wirtschaft des Landes Fachkräfte unterschiedlicher Kulturen dringend benötige - die AfD wird dennoch stärkste Kraft im Thüringer Landtag, ihre Parole von der Überfremdung der Gesellschaft hat offenbar verfangen.
In den USA wird ein verurteilter Straftäter mit überraschend deutlicher Mehrheit zum Präsidenten gewählt - nicht zuletzt deswegen, weil 42 Prozent der wahlberechtigten Latinos für den Kandidaten der Republikanischen Partei gestimmt haben, der im Wahlkampf immer wieder gegen Latinos Stimmung gemacht und eine konsequente Remigration gefordert hat.
Und in Argentinien wechseln sich seit Beginn des letzten Jahres Großdemonstrationen und Generalstreiks in schöner Regelmäßigkeit ab, weil die Menschen plötzlich merken, dass Javier Milei, den sie Ende 2022 mit deutlicher Mehrheit zum Präsidenten gewählt haben, tatsächlich ernst macht mit seiner versprochenen Politik der Kettensäge, mit der er den Sozialstaat und öffentliche Bildungseinrichtungen zerlegen will. Da hätten sie doch mal das Wahlprogramm prüfen können...
Am 23. Februar stehen in Deutschland die vorgezogenen Bundestagswahlen an - noch gut sechs Wochen Zeit also, um die Jahreslosung offen und ehrlich auf die Wahlprogramme der verschiedenen Parteien anzuwenden. Und dabei bitte genau hinzuschauen: eine Lesbe, die mit ihrer farbigen Partnerin als Migrantin in der Schweiz lebt und für eine Partei als Kanzlerkandidatin antritt, die den "Genderwahnsinn" beenden, die Ehe für alle wieder abschaffen will und kulturelle Vielfalt als Zeichen des Niedergangs einer Gesellschaft beurteilt? "Prüfet alles..."
„Aber ich kann doch Wahlprogramme nicht nur durch die queere Brille lesen“, mag jetzt die eine oder der andere denken. Das sehe ich ganz genauso – aber wir sollten auf keinen Fall vergessen, dass Minderheiten immer die ersten Opfer populistischer Parteien und Bewegungen sind. „Es wird schon nicht so schlimm werden“ oder „Es wird schon mich nicht treffen“, das haben auch andere vor uns schon gedacht – und sind dann um ihr Leben gekommen.
„Prüfet alles“, das impliziert aber tatsächlich, die Perspektive nicht auf den queeren Blick zu verengen, sondern alle Themen- und Lebensbereiche in den Blick zu nehmen und zu fragen, was dem guten Leben und dem guten Miteinander dient. Thessaloniki war zur Zeit des Paulus eine lebendige Großstadt, in der sich die verschiedenen Kulturen und Religionen des Römischen Reiches immer wieder begegneten. Der Missionspredigt des Paulus waren wohl nur wenige Mitglieder der Synagoge gefolgt, aber viele Menschen anderer religiöser Prägungen. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass in der Gemeinde bald intensive Diskussionen darüber stattfanden, wie ein Gott gefälliges, „heiliges“ Leben aussieht, zu dem Paulus die Gemeinde berufen weiß (4,1ff). Die Normen, die der Apostel dafür im vierten Kapitel seines Briefes nennt, sind recht allgemein gehalten, sie bilden gewissermaßen die Leitplanken für die Prüfung, zu der Paulus die Gemeinde dann auffordert: Respekt vor dem eigenen Körper und den Körpern der anderen (4,4), Ehrlichkeit im geschäftlichen Umgang miteinander (4,6), Liebe zu den Mitmenschen (4,9) und ein geordnetes Leben, mit dem sich auch der eigene Lebensunterhalt verdienen lässt (4,11).
Kein Wort dagegen verliert Paulus über Ritual- und Speisevorschriften, wie sie das Leben der jüdischen Gemeinde bestimmen, oder über die Frage, ob nichtjüdische Männer der Gemeinde sich beschneiden lassen müssen – wie es die Überzeugung der Missionare um Jakobus und die Jerusalemer Gemeinde war. Das alles bleibt offenbar der eigenen, verantwortlichen Prüfung durch die Gemeindemitglieder selbst überlassen.
„Gut“ ist im Verlauf dieser Prüfung dann nicht einfach das, was für mich gut ist, sondern das, was für die Gemeinschaft und das Miteinander gut ist – das wird aus dem gesamten Kontext des Briefes sehr deutlich: Nur wenige Verse vor dem Losungstext mahnt der Apostel, Geduld miteinander zu haben – und also auch Gegensätze und Widersprüche auszuhalten. Von dem respektvollen und liebevollen Umgang miteinander war eben schon die Rede.
Was heißt das alles für das Jahr 2025 und den Prüfauftrag, den uns queeren Christ:innen die Jahreslosung mit auf den Weg gibt? Ein paar Impulse:
Prüft, wer euch und anderen Minderheiten mit echtem Respekt begegnet!
Prüft, welche Entscheidungen dem respektvollen Miteinander in unserer Gesellschaft dienen – selbst dann, wenn Menschen verschiedener Meinung sind!
Prüft, ob eure Entscheidung nur gut für euch ist oder auch gut für andere – gutes Leben gibt es nur in gutem Miteinander!
Prüft, ob eine Entscheidung geeignet ist, diese Erde als einen Ort guten Lebens auch für zukünftige Generationen und für unsere nicht menschlichen Mitgeschöpfe zu bewahren oder ob dadurch Lebensräume und Lebensmöglichkeiten zerstört werden!
Prüft – in einer Haltung der Dankbarkeit, denn Gott hat uns vielfältig und gut geschaffen und uns die Vielfalt des Lebens auf dieser Erde geschenkt, damit wir und alle seine Geschöpfe gut leben können.