"This Story is My Truth!"

Pfarrerin Josephine Haas
privat
Pfarrerin Josephine Haas
Was "The Code" von Nemo und Auferstehung miteinander zu tun haben
"This Story is My Truth!"
In einer Predigt über Nemos Song "The Code" erzählt Pfarrerin Josephine Haas aus einer queeren Perspektive, was der Gewinnertitel des Eurovision Song Contest 2024 mit Auferstehung zu tun hat. Mit ihrem Beitrag vertritt sie Kerstin Söderblom, die findet, dass zur Queerfeindlichkeit im Kontext von Olympia schon genug geschrieben wurde.

Seit zwei Wochen verfolge ich die Olympischen Sommerspiele in Paris. Ich bin fasziniert von vielen atemberaubenden Leistungen der Beteiligten in allen möglichen Disziplinen. Zudem beteiligen sich auch über 190 offen queere Athlet*innen an den Spielen, so viele wie nie zuvor. Das berührt mich. Andererseits begleiten auch zahlreiche queerfeindliche Untertöne diese Olympischen Spiele, die durch die Sozialen Netzwerke medial massiv verstärkt werden (beispielsweise die zahllosen Hasskommentare und Morddrohungen gegenüber den Verantwortlichen und Darsteller*innen der Eröffnungsfeier).

Darüber ist schon viel Differenziertes und Gutes geschrieben worden, beispielsweise von meiner geschätzten Kollegin Beatrice von Weizsäcker auf Instagram oder hier auf evangelisch.de.

Daher habe ich mich entschieden, meinen heutigen Blogbeitrag meiner Kollegin Josephine Haas zu überlassen. Sie hat in einer Sommerpredigtreihe ihrer Gemeinde über den Song „The Code“ von Nemo gepredigt, der den diesjährigen Eurovision Songcontest gewonnen hat. Ein Preis, der queere Menschen europaweit und darüber hinaus ermutigt und gestärkt hat. Genau darum soll es heute gehen.

Ab hier lesen Sie die Predigt von Josephine Haas:

"United by Music“ lautete das Motto des Eurovision Song Contests (ESC), der dieses Jahr im Mai in Malmö stattfand.

Für die Sommerkirchenreihe sollte ich mich im Frühjahr schon auf ein Lied festlegen. Da ich mich so schlecht entscheiden konnte und der ESC kurz bevorstand, beschloss ich: Europa soll mir die Entscheidung abnehmen.

Ich liebe es, den ESC zu schauen. Ich liebe es, wenn sich die aufgekratzte, glitzernde und kitschige Atmosphäre über den Fernseher auf mich überträgt. Ich liebe es, immer wieder neue Künstler*innen aus Europa zu entdecken. Ich liebe die Spannung beim Zusammenzählen der Punkte. Und ich liebe, dass sich der ESC bei alle dem, nie selbst zu ernst nimmt. Sie haben es also hier mit einem ziemlichen ESC-Fan zu tun.

Am Abend des ESC saß ich also voller Spannung in der Nähe von Mailand zwischen queeren Menschen aus ganz Europa mit denen ich an der Jahrestagung des European Forum of LGBT+ Christian Groups teilnahm, und schaute gespannt mit ihnen den Wettbewerb. 

Mit Nemo und dem Song „The Code“ gewann ein Beitrag aus der queeren Community, was viele von uns – insbesondere die queeren Tagungsteilnehmenden aus der Schweiz – sehr freute und berührte. 

Denn Nemo ist nicht-binär und Nemos Sieg ist ein Hoffnungszeichen, dass nicht-binäre Personen in der Schweiz endlich mehr Sichtbarkeit und bald vielleicht auch mehr Rechte erhalten. 

Wer hat denn nun den Eurovision Song Contest gewonnen?“ – wurde ich von einer Person gefragt, die den ESC nicht verfolgt hatte. „Ein Sänger oder eine Sängerin? Oder war es eine Gruppe?“

Ich habe geantwortet: „Nemo aus der Schweiz hat den ESC gewonnen. Nemo ist nicht-binär. D.h. Nemo identifiziert sich weder als Mann noch als Frau.“

Das ist nicht nur irgendeine beiläufige Information, die ich in meiner Antwort gegeben habe, denn ich wurde ja bewusst oder unbewusst ausdrücklich nach dem Geschlecht des*der ESC-Gewinner*in gefragt.

Und mit der Frage und meiner Antwort sind wir auch schon mittendrin in Nemos Song. 

In „The Code“ singt Nemo nämlich darüber, wie es war herauszufinden, nicht-binär zu sein.

Nicht-binär“ oder „non-binär“ oder „non-binary“, so identifizieren sich Personen, die sich wie Nemo weder männlich noch weiblich erfahren. Aber auch solche, die sich mit beiden Geschlechtern gleichzeitig identifizieren oder sich zwischen männlich und weiblich erleben. Manche verwenden auch lieber Begriffe wie trans, genderfluid oder agender, um über sich zu sprechen.

Nicht-binär in einer weitgehend binärgeschlechtlichen Gesellschaft zu sein, kann ganz schön herausfordern. 

Eine binäre Geschlechterordnung, also die Existenz von nur zwei Geschlechtern, ist zwar mittlerweile gesellschaftswissenschaftlich, biologisch und medizinisch widerlegt. Seit ein paar Jahren gibt es in Deutschland auch die Möglichkeit des diversen Geschlechtseintrags in der Geburtsurkunde und am 1. November 2024 tritt endlich das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Damit wird die Änderung des Geschlechtseintrags leichter.

Dennoch ist unsere Gesellschaft noch sehr von der Annahme geprägt, dass es nur zwei Geschlechter gibt: Mann und Frau. Oder vielmehr: Mann oder Frau.

Wir werden geboren und ein Blick auf unsere außen sichtbaren Geschlechtsmerkmale entscheidet i.d.R. ob wir als Mädchen oder als Junge aufwachsen. Ob wir Männer oder Frauen sein sollen.

Und statistisch sind die meisten von uns fein damit. Aber eben nicht alle. Einige von uns erleben ihre geschlechtliche Identität nicht in Übereinstimmung mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.

Nicht-binär zu sein, das ist mehr als eine Rebellion gegen die Enge von Geschlechterklischees. Das ist ein eigenes geschlechtliches Erleben und die Suche nach Sichtbarkeit und Sein-dürfen in unserer Gesellschaft. Von diesem Erleben können wir uns von Nemo mit „The Code“ erzählen lassen.

„The Code“ – Der Titel von Nemos Song spielt auf den binären Code in der Informationstechnik, der aus Einsen und Nullen besteht, an. „Code“ kann im deutschen aber auch „Norm“ bedeuten. Und ich muss bei dem Wort auch ans Lösen von Rätseln denken. 

Gleich zu Beginn des Songs begrüßt uns Nemo zu der Show, von der wir gleich Zeug*innen werden, und rät uns, uns besser anzuschnallen. Es wird rasant. 

Wenn Sie Nemos Performance beim ESC noch nicht kennen, empfehle ich, jetzt das Video anzusehen.

Hat Nemo zu viel versprochen? Nemos Song ist rasant. Das merkt man schon an der Musik. Nemo wechselt durch verschiedene Musik-Genres: Pop, Oper, Rap und Elektronische Musik wechseln sich ab, vermischen sich, fügen sich zu einem Stück. Schon hier wird klar: Auf nur eins will sich Nemo nicht festlegen!

Und auch Nemos Performance auf der Bühne des ESC erzählt schon einen Teil der Geschichte: Nemo bewegt sich immer wieder auf einer um sich selbst rotierenden Scheibe. Zu Beginn ist es noch eine Kraftanstrengung. Nemo kommt aus der Puste. Wir sehen, wie wackelig Nemo auf den Beinen steht und nach Balance sucht. Und wir sehen Nemo mehrmals auf der Scheibe abrutschen.

Mit der Zeit steht und geht Nemo aber immer sicherer auf der Scheibe. Tanzt sogar. Nemo hat das Gleichgewicht auf der sich drehenden Scheibe gefunden.

Aus einer Situation, die kräftezehrend und unsicher ist, wird zusammen mit der Musik etwas ganz kraftvolles, etwas voller Lebensfreude. Eine Erfahrung, die mir nahe geht.

„This story is my truth“ / „Diese Geschichte ist meine Wahrheit“ singt Nemo am Ende des Intros und nimmt uns mit in die eigene Geschichte. In Nemos Erfahrungen und Gefühle.

Da ist einerseits das Gefühl, gefangen zu sein: 
Nemo singt von Ketten. Ketten können uns körperlich gefangen halten.
Aber es gibt auch Ketten im Kopf. Und von denen singt Nemo auch: Von Normen und von Spielregeln. 

Normen und Regeln können ganz wichtig für Zusammenleben sein. Wichtig ist aber auch, dass wir erkennen lernen, welche Normen und Regeln willkürlich Menschen einschränken; für sie zu Gefängnissen werden, während andere nicht mal die Existenz dieser Normen und Regeln spüren.

Nemo singt auch davon, die Hölle durchquert zu haben. Für mich ein Bild äußerster Qual, äußerster Gefangenschaft und äußerster Einsamkeit. Was muss Nemo erlebt haben, um Lebenserfahrungen als „die Hölle durchqueren“ zu beschreiben? 

Viel zu oft werden Personen, die von der zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Norm abweichen, immer noch als von Gott Abgefallene und der Hölle würdig verurteilt. Von Menschen, die dieses vermeintliche Gottesurteil aus eigener Überzeugung sprechen. Weil in ihren Augen einfach nicht sein darf, was mensch sich selbst nicht vorstellen kann. 

Nemo singt aber nicht nur von Erfahrung des Gefangenseins. Meines Erachtens singt Nemo viel intensiver über das Gefühl, sich selbst zu finden! Sich selbst gewahr zu werden. Wahr zu werden, als die Person, die Nemo ist. Nemo singt über das Freiwerden!

„Ich habe das Spiel satt, und lege meine Ketten ab.“
„Diese Geschichte ist meine Wahrheit.“ (...) 
„Einmal durch die Hölle und zurück
und war plötzlich auf dem richtigen Weg.
ich habe den Code geknackt. (…)
Jetzt stehe ich im Paradies.“

Das, was gefangen hält, hat Nemo hinter sich gelassen. 

In einem Interview erzählte Nemo: 

„‘The Code' handelt von der Reise, die ich mit der Erkenntnis begann, dass ich weder ein Mann noch eine Frau bin. Die Selbstfindung war für mich ein langer und oft schwieriger Prozess. Aber nichts fühlt sich besser an als die Freiheit, die ich durch die Erkenntnis gewonnen habe, dass ich nicht-binär bin.“

Ich glaube, in dem Teil des Songs den Nemo rappt, können wir hören, was Nemo damit meint. Nemo erzählt da über einen solchen Moment der Erkenntnis:
Nemo liegt nachts wach, hat den Kopf voller Gedanken. Und dann kommt plötzlich alles ins Gleichgewicht; alles ist Licht. In religiöser Sprache, könnte man das einen Offenbarungsmoment nennen.

„Wer entscheidet überhaupt, was falsch ist und was richtig ist?“
Auf der Suche nach der eigenen geschlechtlichen Identität, wird Nemo bewusst: Niemand außer ich selbst kann und darf entscheiden, wer ich bin! – Diese Geschichte ist meine Wahrheit!

Mehr sogar als Offenbarung, würde ich sagen.
„Einmal durch die Hölle und zurück… Jetzt steh ich im Paradies.“ Ich finde, das klingt doch ganz ähnlich wie:

„Hinabgestiegen in das Reich des Todes,
am dritten Tage auferstanden von den Toten. 
Aufgefahren in den Himmel.“

Was Nemo singt, klingt für mich wie Auferstehung: Neue Lebendigkeit, neue Kraft, neue Möglichkeiten – Erfahrung von Lebensfülle; von Freiheit.

Das kann ich hören, wenn Nemo weiter rappt:
„Ich bin so aufgeregt, ich bin so begeistert. 
Es ist größer als ich, ich werde so drüber.
Ich will die Tiefen und Höhen schmecken,
ich will diese brennende Angst spüren.“

Nemo greift nach allem, was möglich wird. Nemos Gefühle fahren Achterbahn. Das Leben wird intensiver. Aufregender. Freier nach dem Coming-Out.

Was Nemo über sich singt, erinnert mich an meine eigenen Erfahrungen. Als ich vor Jahren mein Coming-Out hatte, fühlte sich das ähnlich an:
Als ich realisiert hatte, dass ich queer bin; dass ich mich in Frauen verliebe, wurde mein Leben auch ganz plötzlich intensiver.

Erst, als ich mich das erste Mal in eine Frau verliebte, habe ich verstanden, von welchen Gefühlen alle um mich immer geredet haben, wenn sie vom Verliebtsein gesprochen haben. Aber auch das Gefühl eines gebrochenen Herzens kannte ich vorher in der gleichen Heftigkeit noch nicht. Leben und Lieben in bisher unbekannter Kraft und Freiheit, neu zu entdecken: Da berühren sich Nemos Song und meine eigene Lebenserfahrung. 

Leben in bisher unbekannter Kraft und Freiheit, neu zu erfahren. Da bin ich sicher, liegt die universale Botschaft in „The Code“, die sich auch mit vielen Ihrer und eurer Lebenserfahrungen und Lebensgeschichten verbindet. In denen wir erfahren, befreit zu sein; neue Kraft, neuen Mut, neue Freude zu bekommen.
Und wir teilen sie alle: Die Sehnsucht frei, sein zu dürfen, wer wir sind. Und die Sehnsucht danach, dem Geheimnis der Fülle des Lebens nahe zu kommen. 
Vielleicht hat deshalb Nemos Song am ESC-Abend einen Nerv bei so vielen verschiedenen Menschen in ganz Europa und in der ganzen Welt getroffen.

Nemo singt von einer Auferstehungserfahrung. 
Vielleicht wäre mir das gar nicht aufgefallen, wenn mir nicht ein Gedicht meiner Kollegin und Freundin Pfarrerin Kerstin Söderblom den Blick dafür geschärft hätte. Daher beende ich die Predigt mit diesem Gedicht in dem – wie bei Nemo – Coming-Out-Erfahrung und Auferstehungserfahrung zusammenklingen. 

Es hat den Titel „Nicht nur an Ostern“.

Coming Out
heraus drängen aus Mauern von Angst und Vorurteilen.
Steine weg wälzen aus Sachzwängen, Befindlichkeiten, engen Grenzen.
Sich endlich trauen, sich zu zeigen, Ich zu sagen, da zu sein, Platz einzunehmen.
So wie ich bin.
So wie Gott mich geschaffen hat.
Und gesegnet.

Ostern
Heraus aus den Grabhöhlen fester Vorstellungen
zeigt sich ein Mensch,
bekennt sich zu sich selbst.
Seht her, so bin ich!
Von Gott gewollt und gesegnet.

Coming Out
Heraus aus den Gefängnissen von Normalitätsvorstellungen.
Was sollen denn die Nachbarn sagen?
Wie kannst du uns das antun?
Was habe wir bloß falsch gemacht?
Nicht mehr länger bereit sein, sich zu verstellen,
nicht mehr länger fähig, Masken zu tragen,
nicht mehr länger willig, sich im Schrank zu verstecken.

Ostern
Da hat es uns einer vorgemacht.
Er ist herausgetreten aus Gewalt, Hass und Tod.
Er hat tödliche Erwartungshaltungen überwunden
und uns zugerufen: Seht ich lebe, lebt ihr auch!

Coming Out
Heraustreten aus den Grabhöhlen von Vorurteilen, Verleumdungen.
Sich trauen, ich selbst zu sein, so wie ich bin,
von Gott geschaffen,
lesbisch, schwul, bi, trans, inter, nicht-binär, queer,
ohne Schublade, ohne Etikett, ohne Normalitätssiegel
und gesegnet.

Einfach ich.
Herausgetreten aus den Grabhöhlen von Vorurteilen.
Nicht nur an Ostern.

Das Gedicht kann gefunden werden in: Kerstin Söderblom, Queersensible Seelsorge, S. 33 f.

Josephine Haas ist Pfarrerin an der Evangelischen Stadtkirchengemeinde Groß-Gerau in der EKHN. Neben dem Gemeindepfarramt ist sie in verschiedenen feministischen und queeren Kontexten engagiert, insbesondere im Team der Regenbogeng*ttesdienste Mainz.

 

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