Weihnachten queer gelesen

Scherenschnitt einer Krippe vor dem Hintergrund der Intersex-Pride-Flag
Wolfgang Schürger
Menschwerdung und Identität
Weihnachten queer gelesen
"Holder Knabe mit lockigem Haar" - unsere Bilder vom Kind in der Krippe können unsere Vorstellung vom Gott gefälligen Körper beeinflussen. Ein queerer Blick auf diese Bilder und ihre Wirkung.

In wenigen Tagen ist Weihnachten. Wir feiern, dass der große, ewige Gott uns Menschen ganz nah gekommen ist. "Gottes Sohn ist Mensch geborn" werden wir singen. Gott ist einer von uns geworden. Doch halt, genau hier beginnen die Probleme für eine queer-theologische Annäherung an Weihnachten: "einer" oder "eine"?

Ist die Menschwerdung Gottes gleichzusetzen mit der Mannwerdung Gottes? Die Tübinger Fundamentaltheologin Saskia Wendel hat mir und anderen gerade bei einer ökumenischen Tagung zur Queer-Theologie sehr deutlich vor Augen geführt, welche diskriminierenden Tendenzen eine Interpretation von Weihnachten hat, wenn das Geschehen der Heiligen Nacht als Mannwerdung Gottes verstanden wird. Sie hat sich dazu intensiv mit Hans Urs von Balthasar auseinandergesetzt, einem der wichtigsten römisch-katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts, der eine ganze Generation von Bischöfen geprägt hat.

Für von Balthasar muss sich Gott notwendigerweise in einem Mann inkarnieren, weil nur ein männlicher Körper das Spiegelbild der schöpferischen Kraft Gottes sein könne. Eine Frau sei dagegen immer passiv, empfangend und könne wie die Schöpfung nur die schöpferische Kraft in sich aufnehmen. Diese binäre Logik ist nach Saskia Wendel auch die Grundlage dafür, dass das Lehramt immer noch so heftig die Frauenordination ablehnt: Der Priester repräsentiert nach römisch-katholischer Lehre Christus. Kann sich Gott aber nur in einem männlichen Körper inkarnieren, kann eine Frau nicht als Repräsentantin Christi am Altar stehen.

Ist das biologische Geschlecht so entscheidend für die Inkarnation Gottes, dann führt das natürlich ganz schnell dazu, auch nur den (heterosexuell ausgerichteten) männlichen Körper als den eigentlich gottebenbildlichen Körper zu verstehen. Raphaela Soden formuliert sehr deutlich, was dies für alle trans oder non-binären Personen bedeutet: "Wie sollen Menschen wie ich, die (gender)queer, nichtbina?r, agender, trans- und/oder intergeschlechtlich sind, auch Mensch werden, uns inkarnieren, uns einfleischen in unsere Ko?rper, in die Welt, in diese ro?misch-katholische Kirche, die sich als Leib Christi begreift und deren (Ko?rper-)Teil doch eigentlich alle werden durch die Taufe, wenn wir den lehramtlichen Vorstellungen, wie Mensch zu sein hat, gar nicht entsprechen ko?nnen?" (Von Strohhalmen und Menschwerdung, 2022)

Hans Urs von Balthasar hat mit seinen Arbeiten stark dazu beigetragen, das komplementäre und binäre Verständnis von Geschlechtlichkeit in der römisch-katholischen Anthropologie zu verfestigen. Es ist daher nicht ohne Ironie, dass Saskia Wendel beschreibt, wie er in seiner Christologie zu einem Queering der Geschlechtsidentität Jesu kommt: Der mensch-, nein, manngewordene Gott nämlich entäußert sich all seiner Göttlichkeit, wird demütig und liebend - alles Kennzeichnungen, die von Balthasar in der Anthropologie mit dem weiblichen Geschlecht verbindet. In der Christologie zeigt sich also ein queerer Jesus, der - binär gesprochen - die weibliche Seite in sich integriert.

"Gottes Sohn ist Mensch geborn" - die Nähe Gottes, die wir an Weihnachten feiern, führt immer wieder dazu, dass wir Vorstellungen vom gottgleichen Menschsein auf die Person Jesu projizieren. Das Kind in der Krippe zieht diese Vorstellungen auf sich, es inkarniert auch diese in sich - doch es bleiben unsere Vorstellungen, Interpretationen des Weihnachtsgeschehens. Im deutschen Kulturkreis singen wir vom "holden Knaben mit lockigem Haar", und bei vielen verbindet sich damit die Vorstellung vom blonden, lockigen Kind mit blauen oder grünen Augen, wie wir es von vielen Weihnachtsdarstellungen kennen.

Der Jesus, der vor rund 2000 Jahren in Bethlehem in der Krippe lag, mag vielleicht Locken gehabt haben - aber mit ziemlicher Sicherheit waren sie nicht blond. Vermutlich war die Haut des Kindes auch nicht so weiß wie diejenige der Kinder in unseren Krippendarstellungen. Das historische Jesuskind wird eher ausgesehen haben wie eines der Kinder, die heute im Nahen Osten geboren werden. Gott ist also ziemlich sicher nicht in einem weißen Mann Mensch geworden - kein Wunder, dass wir in Afrika Krippendarstellungen mit einem schwarzen Jesuskind finden (hier eine kleine Auswahl).

Was mit Blick auf die Weihnacht vielleicht noch irritiert, kennen wir von Kreuzesdarstellungen schon lange: Menschen finden sich mit den Leiden ihres Alltags im Kreuz Christi wieder. Sie erhalten durch diesen Blick auf das Kreuz (und die auf den Karfreitag folgende Auferstehung am Ostersonntag) Kraft und Hoffnung, gegen dieses Leiden zu kämpfen. Im Jahr 1976 entsteht im Umfeld des nicaraguanischen Befreiungstheologen Ernesto Cardenal das Bild des "Christus von Solentiname", der gekreuzigte Christus ist hier als nicaraguanischer Kleinbauer dargestellt. Im Jahr 1993 sorgt das Material für den Weltgebetstag der Frauen für Aufregung, weil dort eine Kreuzesdarstellung aus der Kirche von Santiago Atitlán in Guatemala eine zentrale Rolle einnimmt. Zu sehen ist eine gekreuzigte Frau, gekleidet in der typsichen Kleidung der indigenen Bevölkerung. Im Begleitheft dazu heißt es: "Wir kennen die Geschichte dieses Kruzifixes nicht. Aber es ist gut vorstellbar, dass es als Symbol für die errichtet wurde, die am meisten Leid tragen. An die 50.000 Witwen gibt es in Guatemala, etwa 250.000 Kinder haben Vater oder Mutter oder gar beide verloren. Die Frauen haben sich 1988 zur nationalen Witwenvereinigung CONAVIGUA zusammengeschlossen. Sie gehen mit Bildern der verschleppten Angehörigen auf die Straße und fordern Aufklärung", (ausführlich siehe hier).

In dem Menschen den gekreuzigten Jesus als eine:n der ihren darstellen, bringen sie ihre eigene Leidensgeschichte ans Kreuz und machen diese durchlässig für die Kraft der Auferstehung und des neuen Lebens.

Ähnliches machen wir immer schon, wenn wir uns das Kind in der Krippe mit der Haut- und Haarfarbe vorstellen (und darstellen), die unseren Kulturkreis dominiert. Wir inkarnieren auf diese Weise Gott erneut, nämlich in unser eigenes Menschsein. Lebendiger Glaube ist darauf angewiesen, dass diese Inkarnation - oder Inkulturation - immer wieder gelingt. Anders nämlich wäre der Glaube tot. Doch gerade um dieser Lebendigkeit des Glaubens willen, darf dann nicht eine Interpretation als die verbindliche, gar Gott gewollte verstanden werden. Gott wird Mensch, nicht weißer Mann. "Gott kommt in die Existenz dieser Welt - in all ihrer Vielfalt", das ist die Botschaft von Weihnachten.

In "Strohhalm und Weihnachten" erzählt Raphaela Soden von einer Begegnung mit dem Video zu dem Song „The Star of Bethnal Green" von Bear’s Den: "Es spielt an Heiligabend. Eine Person sitzt einsam in ihrer halbdunklen Wohnung und macht sich schließlich auf in eine Kneipe mit dem Namen 'The Star of Bethnal Green'. Dort setzt sie sich an die Theke und bestellt ein Getra?nk. Auf der Bu?hne fa?ngt eine trans Frau an zu singen. Die Person scheint wie vom Blitz getroffen. Der Liedtext erkla?rt, warum. Sie kann sich in der Sa?ngerin wiederfinden und es fu?hlt sich an, als wu?rde sie in diesem Moment in der Bar getauft werden. Der Augenblick scheint lebensvera?ndernd fu?r sie zu sein. Sie fu?hlt sich plo?tzlich mitten in ihrem Schmerz Gott nahe und erkennt, dass sie ihr ganzes Leben lang versucht hat, zu ignorieren, wer sie ist. Der Refrain setzt ein: 'But love, I'm alive, and maybe the Star of Bethnal Green could lead us back to Bethlehem. Lord, I have tried, and maybe the Star of Betnal Green could lead uns back to Bethlehem.' Nachdem die Gesangsdarbietung in der Bar zu Ende ist, gehen die beiden gemeinsam in die leere dunkle Wohnung der Protagonistin. Dort hilft ihr die Sa?ngerin, die Kleider, die in ihrem Schrank ha?ngen, anzuziehen und sich zu schminken. Der Liedtext macht deutlich, wie heilsam diese unterstu?tzende Begegnung fu?r die Frau ist. Sie la?chelt befreit und glu?cklich angesichts dessen, endlich sein zu ko?nnen, wer sie ist: Sich offensichtlich das erste Mal im Spiegel zu erkennen, sich in sich behausen zu ko?nnen. Auf einmal sitzt sie allerdings wieder alleine in ihrer Wohnung. Sie eilt zum Fenster und sieht die Sa?ngerin weggehen. Diese dreht sich noch einmal um. Blut la?uft u?ber ihr Gesicht. Der Anblick erinnert an Bilder des dornengekro?nten Jesus. Die Frau am Fenster erschrickt. Die Sa?ngerin zuckt entschuldigend mit den Schultern, winkt und la?uft weg. Die Musik endet. Ein Text wird eingeblendet. Es ist zu lesen, dass im Jahr 2019 weltweit mindestens 331 trans Menschen ermordet wurden. Das Bild wird schwarz. In der Schlussszene o?ffnet die Frau als sie selbst mit frohem Gesicht die Tu?r und verla?sst das Haus. Im Hintergrund sind Kirchenglocken zu ho?ren, die zum Weihnachtsfestgottesdienst rufen."

Der leidende (und wiederauferstandene) Christus inkarniert sich in dieser Auslegung Raphaelas in der Person, die durch die Begegnung mit der Christusperson befähigt wird, ihre Transition anzunehmen und durchzuführen: "Gerade der Augenblick, in dem die Frau mit sich selbst in Kontakt kommt, sich mit ihrem Transsein verbindet, wird zum Moment der Gottesbegegnung und der Menschwerdung. Sie wird sie selbst. Sie wagt, der Mensch zu sein, der sie ist. Sie nimmt Wohnung in sich, wird sichtbar, inkarniert."

Die enge Verbindung, die Raphaela Soden (und das Video selbst) zwischen Kreuz und Krippe zeichnen, macht deutlich, dass Gott sich keineswegs makellos rein inkarniert. Schon der Stall in Bethlehem alles andere als der Ort erster Wahl für die Geburt eines Gottes, Stroh und Mist gehören hier zur Menschwerdung dazu. "Star of Bethlan Green" inkarniert das göttliche Wesen in die zerrissene Existenz einer Person, die mit ihrer Transidentität ringt. In ihrer Personwerdung als Transperson strahlt das Licht der Weihnacht schließlich auf. Neues, erfülltes Leben wird geboren!

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