Herr Ministerpräsident, Staat und Kirche könnten ja eigentlich auch einfach so gut miteinander auskommen. Wozu braucht es einen Staatsvertrag?
Stephan Weil: Ein gutes Verhältnis spricht nicht dagegen, wesentliche Fragen auch vertraglich festzuhalten. Im Loccumer Vertrag verpflichten sich beide Seiten zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Trennung von Staat und Kirche. Das gelingt uns jetzt schon viele Jahrzehnte lang sehr gut, finde ich.
An welchen Stellen der politischen Arbeit ist aus Ihrer Sicht der Beitrag der Kirchen besonders gefragt?
Weil: Gemeinsame Handlungsfelder von Politik und Kirche, die mir besonders am Herzen liegen, sind der Bildungsbereich, also die Kindertagesstätten und Schulen in kirchlicher Trägerschaft, aber auch der für unsere Gesellschaft so wichtige Religionsunterricht. Dasselbe gilt auch für die soziale Arbeit. Die Kirchen engagieren sich in der Jugendarbeit, in der Unterstützung von alten Menschen, in Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen, in der Obdachlosenarbeit, der Schuldnerberatung, in Tafeln und Suppenküchen. Unverzichtbar ist auch ihr Einsatz im Gesundheitsbereich - von der Pflege über die Krankenhausseelsorge bis hin zu Besuchsdiensten. In manchen dieser Bereiche erreichen die Kirchen die Menschen oft besser als staatliche Institutionen.
Der Loccumer Vertrag ist der erste Staatskirchenvertrag in der Bundesrepublik. Was macht ihn so besonders?
Weil: Mit diesem Vertrag ist eine gemeinsame Verantwortung für die Gesellschaft in ein Regelwerk gegossen worden. Dies war so gut gemacht, dass der Vertrag zum Vorbild für zahlreiche nachfolgende Staatskirchenverträge wurde - übrigens auch für die Konkordate der Länder mit der katholischen Kirche. Inhaltlich ist es vor allem der hier festgehaltene Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen: Sie sollen ganz bewusst in die Öffentlichkeit hinein zu Grundfragen des politischen und gesellschaftlichen Lebens Stellung nehmen. Kirchliche Äußerungen können und sollen also, wenn das nötig ist, Partei ergreifen. Nach meinem Eindruck gehen die Kirchen mit diesem Auftrag verantwortungsvoll und mit Augenmaß um.
"Wir brauchen Stimmen der Kirchen, um uns kritisch begleiten zu lassen."
Zuweilen knirscht es aber zwischen Politik und Kirchen, etwa beim Thema Kirchenasyl. Ist Ihnen die Kirche manchmal zu politisch?
Weil: Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, Wünsche und Erwartungen werden aus vielen Richtungen an die Politik herangetragen. Das politische Gemeinwesen ist durchaus daran interessiert, dass in diesem Konzert unterschiedlicher Ideen auch das Interesse am Wohl der gesamten Gesellschaft vertreten wird und dass auch Menschen, die keine Lobby haben, gehört werden. Wir brauchen Stimmen wie die der Kirchen, um uns von ihnen kritisch begleiten oder anstoßen zu lassen, damit schützenswerte Einzelinteressen, die möglicherweise sonst vernachlässigt würden, Gehör finden. Und im Übrigen: Meinungsunterschiede in Sachen Kirchenasyl zwischen der Landesregierung und den Kirchen sehe ich nach meinen Gesprächen nicht.
Rüttelt das Kirchenasyl am guten Verhältnis zwischen Staat und Kirche?
Weil: Nein, auch in Fällen, in denen der Staat von seinem Zugriffsrecht Gebrauch machen könnte, um eine Abschiebung zu vollziehen, wird das Kirchenasyl vom Land geduldet, wenn es dafür im Einzelfall besondere Gründe gibt. Dies ist auch Ausdruck des Vertrauens des Staates in die Kirchen. Die Kirchen tun gut daran, ihrerseits kritisch zu prüfen, welchen Personen sie Kirchasyl gewähren.
"Die Impulse der Reformation beeinflussen bis heute."
Die Kirchen haben stark an Mitgliedern verloren. Sind sie aus Sicht der Politik inzwischen eine Nichtregierungsorganisation unter vielen?
Weil: Die Kirchen in Niedersachsen sind nicht nur religiöse Gemeinschaften, sondern auch unverzichtbare Pfeiler unserer demokratischen Gesellschaft. Sie leisten einen entscheidenden Beitrag für Toleranz, Mitmenschlichkeit und sozialen Zusammenhalt. Das Land wird deshalb die Landeskirchen und Bistümer weiterhin in den politischen und gesellschaftlichen Dialog um Zukunftsfragen einbeziehen. Gerade in ihrem Engagement für den interreligiösen Dialog und in ihren vielfältigen sozialen, kulturellen und Bildungsaktivitäten sind sie unabhängig von ihrer Mitgliederzahl wichtige Partner im Rahmen unserer Bemühungen um Integration und Teilhabe. Ich betrachte die Kirchen als einen echten Stützpfeiler unserer Demokratie in Niedersachsen.
2018 hat Niedersachsen den Reformationstag als gesetzlichen Feiertag eingeführt. Ist das auch eine Frucht des Loccumer Vertrages?
Weil: Feiertage gehören nicht zum Regelungsgehalt des Loccumer Vertrags. Aber das gute und konstruktive Verhältnis zwischen Land und Kirchen drückt sich eben nicht nur im Loccumer Vertrag aus, sondern auch darin, dass das Land einen Feiertag beschlossen hat, der evangelischen Ursprungs ist. Gerade dieser Feiertag aber hat darüber hinaus durchaus eine allgemein kulturelle Bedeutung für unsere Gesellschaft. Die Impulse der Reformation beeinflussen bis heute Politik, Sozialwesen, Sprache, Literatur, Kunst und Musik und sie haben die westlichen Wert- und Normvorstellungen wesentlich mitgeprägt.
"Wir wollen auch ein vertrauensvolles Verhältnis zu anderen Religionen."
Immer wieder wird die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen gefordert, die auf Enteignungen von kirchlichem Besitz in napoleonischer Zeit zurückgehen. Dafür wäre ein hoher Einmalbetrag nötig, der bundesweit in die Milliarden ginge. Wie ist Ihre Position dazu?
Weil: Ich halte Ablösezahlungen an die Kirchen in einer solchen Größenordnung aufgrund der derzeitigen Haushaltslage in den Ländern für schlichtweg nicht darstellbar. Natürlich gibt es dabei eine gewisse Ambivalenz, weil es sich bei der Ablösung der Staatsleistungen um einen Verfassungsauftrag handelt, aber die aufgerufenen Beträge sind außerhalb aller Möglichkeiten. Wir haben in dieser Frage übrigens eine sehr große Einigkeit unter den Ländern. Ich glaube, dass die Staatsleistungen bei den Kirchen gut aufgehoben sind.
Kann der Loccumer Vertrag ein Vorbild für Verträge mit anderen Religionsgemeinschaften sein?
Weil: Natürlich können wir als Staat nicht nur Partner der christlichen Kirchen sein, sondern müssen und wollen auch ein vertrauensvolles Verhältnis zu anderen Religionen und Weltanschauungen pflegen. Und wir haben ja auch Vereinbarungen mit dem Landesverband der jüdischen Gemeinden und mit dem Humanistischen Verband. Die muslimischen Verbände streben ebenfalls eine Vereinbarung mit dem Land an. Solche Verträge müssen jedoch stets gesondert beurteilt werden. Insofern ist der Loccumer Vertrag sicherlich nicht eins zu eins auf andere Vertragssituationen übertragbar.
Vor acht Jahren hat Niedersachsen die Gespräche über einen Vertrag mit den islamischen Religionsgemeinschaften wegen einiger offener Fragen auf Eis gelegt. Im jüngsten Koalitionsvertrag heißt es nun, der Dialog solle fortgesetzt werden. Wann ist es so weit?
Weil: Das einvernehmliche Aussetzen der Gespräche über den Abschluss von Verträgen mit den islamischen Landesverbänden von Ditib und Schura im Jahr 2017 hatte nicht zur Folge, dass der Dialog mit diesen Verbänden abgebrochen wäre. Im Gegenteil, die Landesregierung und die islamischen Landesverbände haben ihre vielfältigen Kontakte fortgesetzt. Dies betrifft insbesondere die Themen Prävention vor islamistischer oder salafistischer Radikalisierung, die Studiengänge für Islamische Theologie und Islamische Religion an der Universität Osnabrück, die Gefängnisseelsorge sowie den Islamischen Religionsunterricht an Schulen. Ob und wann wir die Gespräche über den Abschluss von Verträgen wiederaufnehmen und welche Fragen wir bis dahin noch miteinander klären müssen, werden wir weiterhin mit unseren Partnerinnen und Partnern auf beiden Seiten besprechen.