Am 24. März 1675 publiziert der Frankfurter evangelische Pfarrer Philipp Jakob Spener das Buch "Pia desideria", zu Deutsch "Fromme Wünsche". Es wird zum Grundsatzprogramm des Pietismus, mit seiner Empfehlung, das Christsein in den Alltag zu holen - etwa durch wöchentliche Hausbibelkreise, aber auch durch tätige Nächstenliebe. Die Gedanken fallen im deutschen Südwesten, insbesondere in Württemberg, auf so fruchtbaren Boden, dass sie die kirchliche wie auch die wirtschaftliche Entwicklung in den folgenden 350 Jahren prägen.
Insgesamt sechs Wünsche formuliert der hessische Theologe. So sollte jeder Christ in der Bibel lesen und sich angesichts des im Neuen Testament verkündeten "Priestertums aller Gläubigen" um die Seelsorge an seinen Nächsten kümmern. Nichtchristen sollten durch einen liebevollen Lebenswandel überzeugt werden, nicht durch Diskussionen. Fürs Theologiestudium empfiehlt Spener statt reiner Wissensvermittlung eine Erziehung der Studenten zu vorbildhaften Christen. Und schließlich rät er zu Predigten, die sich stärker an den Bedürfnissen der Zuhörer orientieren.
In Württemberg finden die Ideen Speners ein starkes Echo. Höfische Kreise sehen darin eine angemessene Antwort auf den Lebensstil von Herzog Eberhard Ludwig (1693-1733), der mit seinen Mätressen und seinen absolutistischen Herrschaftsvorstellungen den Ruf der Obrigkeit schädigt. Aber auch einfachere Leute finden sich in Speners Reformprogramm wieder. Sie treffen sich privat in sogenannten Konventikeln oder "Stunden", um miteinander in der Bibel zu lesen und zu beten.
"Mich ärgert es, wenn Pietismus auf Frömmelei reduziert wird"
Die Kirchenleitung sieht das kritisch und versucht, diese innerkirchliche Welle durch das "Pietistenreskript" im Jahr 1743 in geordnete Bahnen zu lenken. Das Papier erlaubt pietistische Versammlungen unter Auflagen: nicht mehr als fünfzehn Personen, keine Ortsfremden, nicht bei Nacht, Frauen und Männer getrennt. Die Bewegung breitet sich aus und fördert damit das, was später als schwäbische Tugenden betrachtet werden: Fleiß, Sparsamkeit, ein sittsamer Lebenswandel. Dazu kommt Bildung - denn jeder soll selbst die Bibel lesen können. Bildung wird im armen Württemberg, das über keine Bodenschätze oder sonstige Reichtümer verfügt, zum kostbarsten Faktor ökonomischer Entwicklung.
Die Wirtschaft im Südwesten weiß bis heute, was sie an dieser Frömmigkeitsbewegung hat. "Mich ärgert es, wenn der Pietismus immer wieder auf Frömmelei und Kehrwoche reduziert wird", sagte etwa der 2018 gestorbene Seniorchef des Unternehmens "Trumpf", Berthold Leibinger, in einem Zeitungsinterview. Leibinger hatte nach eigenen Worten vom Pietismus Fleiß, Bescheidenheit und Selbstverantwortlichkeit gelernt - er wuchs im pietistischen Korntal bei Stuttgart auf.
Der Historiker Simon Gonser hält dagegen den Einfluss des Pietismus auf die schwäbischen Tugenden für überschätzt. Als wirksamer stuft er den Einfluss württembergischer Erbregelungen mit der Realteilung ein, bei der alle Kinder erbten und deshalb die Flächen immer kleiner wurden - die Erben mussten also fleißig und bescheiden ums Überleben kämpfen.
Auch die Struktur der Landeskirche, die schon vor Entstehen des Pietismus erheblichen Einfluss auf die Lebensführung ihrer Mitglieder nahm, hatte ihren Anteil. Dazu kommt laut Gonser, dass in Württemberg nur eine kleine Minderheit der Menschen Pietisten waren. Pietistische Siedlungen wie Korntal bei Stuttgart und Wilhelmsdorf bei Ravensburg hätten sich wirtschaftlich nicht besonders hervorgetan, analysiert der promovierte Geschichtswissenschaftler, der heute das Büro des CDU-Landtagsabgeordneten Christian Gehring leitet.
Speners "Pia desideria" werden inzwischen im Südwesten kaum mehr gelesen. Doch der Pietismus zeigt hier unverändert seine Kraft - etwa in den großen Verbänden "Die Apis", Liebenzeller Gemeinschaft, Süddeutsche Gemeinschaft oder Christusbund. Insofern sind Teile der "frommen Wünsche" aus Hessen im Südwesten dauerhaft in Erfüllung gegangen.