Coming-out und die Angst der Fußball-Bundesliga

Coming-out und die Angst der Fußball-Bundesliga
Matthias Albrecht
Statt Worten, die wie rote Karten wirken, brauchen Fußballbundesligaspieler, die sich outen wollen, Ermutigung und Solidarität.
Wer Fußball-Bundesligaspielern von einem Coming-out abrät, wie es jüngst wieder der Ex- Nationalspieler Philipp Lahm tut, der verschlimmert die Situation dieser Spieler und offenbart damit vor allem eines: Die eigenen Ängste. Eine Analyse.

"Ihr könnt auf uns zählen!", so der Titel einer Kampagne des Fußballmagazins 11 Freunde. Im Rahmen dieser Kampagne erklären sich über 800 Menschen aus der Welt des Fußballs, darunter so prominente Personen wie die Bundesligaspieler Max Kruse, Jonas Hector, Niklas Stark, Lars Stindl und Matthias Ginter solidarisch, für den Fall, dass sich männliche Profispieler* aus der deutschen Fußball-Bundesliga, die gleichgeschlechtlich lieben, outen. Zur gleichen Zeit erscheint das neue Buch des ehemaligen Nationalspielers Philipp Lahm, in dem er bezüglich eines solchen Outings formuliert, ihm erschienen "die Chancen gering, so einen Versuch in der Bundesliga mit Erfolg zu wagen und nur halbwegs unbeschadet davonzukommen". Damit steht er im Widerspruch zu dem, was die über 800 Personen mit ihrer Solidaritätsaktion zu unterstützen versuchen. Nicht zu Unrecht werden Lahms Äußerungen deshalb so interpretiert, dass er seinen aktiven Kollegen von einem Coming-out abrät. Neu sind solche Töne freilich nicht. Auch der aktive Nationalspieler Toni Kroos erklärte im letzten Jahr: "Ich weiss nicht, ob ich jemandem raten würde, sich als Aktiver zu outen". Ähnliches sagte schon vor Kroos der ehemalige Bundesligatrainer Ottmar Hitzfeld. Der Tenor ist dabei stets derselbe: Mensch habe selber selbstverständlich nichts gegen die Homosexualität der Spieler, nein darum gehe es nicht, nur die Sorge, dass diese Spieler nach ihrem Outing auf dem Platz diskriminiert werden könnten - insbesondere durch Fans gegnerischer Mannschaften - und die Folgen davon, allein diese Sorge sei es, wegen der vom einem Coming-out abgeraten würde. Je öfter ich dieses Argument der Sorge höre, desto mehr frage ich mich, wessen Wohl diese Sorge eigentlich gilt? Des Wohles der Spieler, die sich möglicher Weise outen könnten oder des Wohles der Personen, die die Spieler davor warnen?

Als "Schattenseiten des Fußballs" benennt Philip Lahm "Rassismus, Diskriminierung, Homosexualität". Die ZDF- Journalistin Dunja Hayali, mit der Lahm das Interview aus dem dieses Zitat stammt, führt, korrigiert den Ex-Spieler hierauf prompt, indem sie das Wort "Homophobie" einwirft, das Lahm vermeintlich statt "Homosexualität" sagen und als Schattenseite des Fußballs benennen wollte. Ich frage mich, ob wir es hier vielleicht mit einer Freud'schen Fehlleistung zu tun haben. Auf jeden Fall erweckt das konsequente Abraten von einem Coming-out den Eindruck, als ob viele Verantwortliche in der Tat nicht anti-homosexuelle Einstellungen, sondern vielmehr die Existenz von Homosexualität als Schattenseite des Fußballs erleben. Homosexualität ist da. Sie ist ein Faktum. Auch im Fußball. Und dass das so ist, wirft die Frage auf, warum es in der deutschen Fußball-Bundesliga keinen einzigen Spieler gibt, der offen gleichgeschlechtlich liebt. Es ist die Beantwortung dieser Frage, die die Verantwortlichen im Fußball vor ein Problem stellt. Ein Problem, das manche wohl als einen Schatten empfinden. Der professionelle Männerfußball ist in Deutschland ein Milliardengeschäft. Unter Rückgriff auf die Instrumente des Marketings wird er von denen, die ihren Profit daraus schlagen, als eine Welt verkauft, die sich auf der Grundlage von Werten wie Fairness, egalitärem Wettbewerb, sportlicher Leistung sowie der Leidenschaft am Spiel konstituiert. Dieses Bild aufrecht zu erhalten wird schwierig, wenn es mit Fragen nach der Situation der Spieler, die gleichgeschlechtlich lieben, konfrontiert wird. Denn wie fair ist denn eine Welt, in der Spieler ihre Partner, weil diese gleichen Geschlechts sind, vor der Öffentlichkeit verstecken müssen, wie etwas dessen mensch sich schämen müsste? Und wie gleich sind die Chancen von Spielern, Karriere zu machen, wenn sie homosexuell statt heterosexuell empfinden? Wo geht es da noch um die sportliche Leistung? Der ehemalige U-19 Nationalspieler Nico Schulte sprach im Zusammenhang mit seinem unfreiwilligen Outing davon, dass das Bekanntwerden der Homosexualität eines Spielers ein Stigma sei, das dieser nicht mehr los würde. Aber liegt es überhaupt im Interesse der Funktionär*innen diese Zustände zu ändern? Oder ist ihnen das System des Schweigens nicht nur recht, sondern es wird sogar noch aktiv von ihnen befördert?

Im Jahr 2019 gab es eine frappierende Diskussion in Frankreich, die Wellen bis über die Landesgrenzen hinausschlug. Schiedsrichter brachen damals auf Grund des Hochhaltens anti-homosexueller Plakate hochkarätige Fußballspiele ab. In der Folge entbrannte eine öffentliche Diskussion um die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme. Der Präsident des französischen Fußballverbands, Noël Le Graët, nahm hierbei die Position ein, dass ein Spielabbruch bei rassistischen Aktionen sehr wohl gerechtfertigt sei, bei solchen, die sich gegen Menschen richten, die gleichgeschlechtlich lieben, allerdings nicht. Es stellt sich die Frage, wo denn hier der Unterschied liegt? Rassistische Reaktionen werden neben anderen Faktoren durch das Rezipieren äußerer Merkmale ausgelöst. Offensichtlichstes Beispiel hierfür ist die Hautfarbe. Dieses Merkmal kann ein Mensch nicht (oder nur schwer) verstecken. Eine Person, die Schwarz ist, ist als solche erkennbar. Und es wäre nicht nur absurd, sondern auch hoch skandalös, wenn von Spielern verlangt würde, sich ihre Haut zu bleichen, damit sie nicht mehr als Objekte rassistischer Beleidigungen auffallen. Die Konsequenz ist, dass sich der professionelle Fußball daher mit dem Rassismus zwingend befassen muss. Im Falle der Homosexualität ist die Situation eine andere. Die Homosexualität eines Spielers ist nicht ohne weiteres sichtbar. Auf dem Platz sowieso nicht. Außerhalb des Platzes kann sie versteckt werden. Und gerade dieser Umstand ist es, der den unterschiedlichen Umgang mit den Phänomenen Rassismus und anti-homosexueller Diskriminierung im Fußball begründet.

Wenn Toni Kroos sagt, er wisse nicht, ob er aktiven Spielern zum Coming-out raten solle, dann erweckt das den Eindruck, als ob es sich bei einem Coming-out um etwas Optionales handelt. Doch das ist eine Verdrehung der Tatsachen sowie eine Verkennung der Situation seiner Kollegen, die gleichgeschlechtlich lieben. Kroos zeigt sich in der Öffentlichkeit mit seiner Frau und seinen Kindern. Warum auch nicht? Das ist für viele prominente Fußballer etwas Normales. Die Familie gehört zum Leben dazu. Eben! Und so selbstverständlich wie Kroos dieses Recht besitzt, muss es auch all seinen Kollegen unabhängig von deren sexueller Orientierung zukommen. Sich gemeinsam mit dem Partner zu zeigen ist kein Partialinteresse einer Minderheit, sondern ein universelles Bedürfnis. Wer dieses Recht, weil er heterosexuell empfindet einfach jeder Zeit in Anspruch nehmen kann, der mag leicht vergessen, welche schweren seelischen und gesundheitlichen Schäden es verursacht, den Partner zu verstecken, zu verleugnen und unsichtbar machen zu müssen. Diese Perspektive taucht in Kroos Äußerungen bezeichnender Weise auch gar nicht auf. Es ist eine höchst paternalistische Geste, als Person, die selbst keine solche Diskriminierung erlebt, öffentlich zu sinnieren, ob es denn für jene, die unter Diskriminierung leiden gut und klug sei, jenes Recht für sich zu beanspruchen, dass mensch sich selbst täglich völlig selbstverständlich nimmt. Kroos sind wohl auch selbst Zweifel an seiner eben zitierten Aussage gekommen, denn er meinte einige Zeit später selbstkritisch: "Ich kann nicht dazu raten oder davon abraten, weil ich im Endeffekt nicht mit den Konsequenzen leben muss". Der erste Teil des Satzes ist zu bejahen, der zweite hingegen nicht, da er zu kurz gesprungen ist und das eigentliche Problem nicht erfasst. Denn es geht nicht darum, dass es im Falle eines Outings dann auf der einen Seite einen Spieler gibt, der ganz allein dasteht und mit der Diskriminierung fertig werden muss und auf der anderen Seite ein System Fußball-Bundesliga, das damit nichts weiter zu tun hat. Wenn es zu einem Coming-out im Profifußball kommt, dann wird dies den Fußball als Ganzes betreffen. Diese Tatsache dürfte auch mehr oder weniger allen bewusst sein, doch das Nachdenken darüber scheint angstbesetzt. Die Sorgen vor den Konsequenzen eines Outings scheinen so enorm, dass viele lieber an dem bisherigen System des Versteckens festhalten wollen. Äußerungen wie die von Kroos oder jüngst von Lahm tragen zur Manifestation des Status Quo bei. Es wird die Unmöglichkeit eines Coming-outs behauptet und damit gleichzeitig performativ festgeschrieben. Die Spieler, die sich möglicher Weise doch trauen wollen, werden dadurch gewarnt, dass es ihnen schlecht ergehen würde, was den Ausgang ihres Coming-out bereits vorwegzunehmen versucht. Auf diese Weise entsteht ein Narrativ vom Spieler, um den sich alle sorgen und der sich auch um sich selbst sorgen sollte, weil er von einem anti-homosexuellen Außen bedroht wird. Dieses Narrativ erfüllt zwei Funktionen: Zum einen ruft es die Spieler, die homosexuell begehren, immer wieder zur Ordnung. Ihnen wird deutlich gemacht, dass die Welt des Fußballs noch nicht bereit für ihr Coming-out sei und dass sie deshalb in ihrem eigenen Interesse davon absehen sollten. Ihr legitimes Streben nach universellen Rechten, wie dem freien Leben einer Partnerschaft, wird damit als Partialinteresse verbrämt, auf welches sie zum eigenen Wohl, aber auch dem der Gemeinschaft des Fußballsportes verzichten sollen. Die zweite Funktion dieses Narratives ist eine Verantwortungsdiffusion. Diejenigen, die die Verantwortung in der Bundesliga tragen und deshalb auch die Umstände dafür schaffen müssten, dass die Spieler ihre gleichgeschlechtlichen Partnerschaften öffentlich leben können, die weisen die Verantwortung von sich. Sie verstecken sich hinter dem Narrativ. Die Schuld, warum ein Outing nicht möglich ist, wird vom eigenen Verantwortungsbereich ins Äußere, in das Feld der Fans verlegt. Was für eine bequeme Art, die eigenen Ängste davor, als Verantwortlicher Position zu Homosexualität in der Bundesliga beziehen zu müssen, abzuwehren. Hier wird der Konflikt mit denen, die anti-homosexuelle Einstellungen innerhalb und außerhalb des Systems Fußball vertreten, vermieden. Zudem wollen sich viele wohl neben Rassismus nicht noch mit einem weiteren Diskriminierungsthema befassen. Doch dieses institutionalisierte Wegducken steht den Verantwortlichen in der Bundesliga nicht zu, es ist unredlich, unethisch und - mit Verlaub - auch feige!

Der Fußball-Bundesliga werden in unserer Gesellschaft sehr weitgehende Privilegien eingeräumt. Das lässt sich gerade wieder an den Ausnahmen ablesen, die dieser Sportbereich von den Maßnahmen zugestanden bekommt, die uns alle vor der COVID19- Pandemie schützen sollen. Wer solch einen wichtigen Status für die Gesellschaft für sich deklariert, der muss die Legitimität dessen aber auch beweisen. Und dieser Beweis ist nicht schon allein damit erbracht, der Bevölkerung ein paar unterhaltsame Spiele zu liefern, deren Übertragungsrechte dem System Fußball wiederum viele Millionen Euro bringen. Die Verantwortlichen in der Bundesliga müssen in der Frage Farbe bekennen, ob sie bereit sind, die Unsichtbarmachung von Homosexualität und damit den Kotau vor den anti-homosexuellen Kräften innerhalb und außerhalb des Sports, der tief in die Strukturen des Fußballs eingelassen ist, zu beenden. Werden die Spitzenverbände alles dafür tun, dass Spieler sich künftig outen können? Werden Menschen, die innerhalb der Bundesliga auf der Grundlage von anti-homosexuellen Einstellungen handeln, konsequent von ihren Aufgaben entbunden? Erfolgt eine Beendigung und Aufarbeitung aller Praxen, die Spieler zur Geheimhaltung ihrer Sexualität geraten und diese befördert haben? Und wird mensch auch bereit sein, negative Reaktionen von Zuschauer*innen, Vereinsmitgliedern, Fans, Sponsor*innen etc. hinzunehmen und zwar auch dann, wenn dies zu Kontroversen, Konflikten und substanziellen finanziellen Verlusten führt?

Die Bundesliga muss ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Im Falle der Homosexualität versagt sie hier bislang. Das ist schon allein deshalb nicht akzeptabel, weil sie für viele Menschen einen hohen Vorbild- und Identifikationscharakter hat. Es kann nicht sein, dass insbesondere jungen Menschen vorgelebt wird, dass Homosexualität etwas ist, dass versteckt werden muss und dass sich eine Institution wie die Bundesliga vor anti-homosexuellen Einstellungen beugt. Wenn nicht dementsprechend gehandelt wird, nützen auch alle Sonntagsreden und PR- Maßnahmen der Verantwortlichen zu diesem Thema nichts, sie bleiben Lippenbekenntnisse. Außerdem schafft die Bundesliga so selbst das anti-homosexuelle gesellschaftliche Klima, das sie unter ihren Fans beklagt und welches als Grund angeführt wird, warum mensch Spieler vom Outing abrät. Es ist ein selbst mit verursachter Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt. Die internen Bedingungen dafür, dass Homosexualität in der Bundesliga lebbar ist, muss die Liga selbst schaffen. Angesichts ihrer finanziellen und personellen Potenz könnte beispielsweise mit Leichtigkeit ein Programm entwickelt werden, dass die Bedingungen, unter denen (angehende) Profispieler, die homosexuell lieben, leben, erfasst. In einem zweiten Schritt kann dann auf dieser Grundlage ein Veränderungsprozess in den Institutionen in Gang gesetzt werden, der die Voraussetzungen dafür schafft, Spieler beim Coming-out proaktiv zu unterstützen. Aber auch ehemaligen Spielern, die bis heute darunter leiden, dass sie sich verstecken mussten, sollte geholfen werden. Wer Millionen für die Heilung von Knien und Kreuzbändern ausgibt, der sollte sich, wenn es um das seelische Wohl seiner (Ex-) Spieler geht, nicht weniger solvent zeigen.

Ein allererster Schritt sollte es sein, dass die Warnungen vor sowie das Abraten vom Coming-out in der Bundesliga aufhören. Die Spieler haben schon genug eigene Ängste, sie brauchen nicht noch eine zusätzliche Befeuerung derselben. Wer seinem Freund durch etwas hindurch helfen will, vor dem er Angst hat, der verstärkt ja nicht noch zusätzlich die Furcht, sondern sucht mit ihm gemeinsam Lösungen. Die Spieler brauchen konstruktive Unterstützung. Nur so lässt sich der Teufelskreis der Angst durchbrechen. Die Solidaritätsaktion der 11 Freunde ist daher bemerkenswert und es bleibt zu hoffen, dass sich ihr noch viele Spieler*innen, Trainer*innen, Vorstände, Funktionär*innen und sonstige Verantwortliche anschließen, die dann für ein echtes Umdenken sorgen. Der Bundesligaspieler Max Kruse sagte in diesem Zusammenhang: "Wenn sich einer meiner Kollegen outen würde, würde ich ihn vor den Idioten draußen schützen". Worte, die sich jeder Bundesligaspieler zu eigen machen sollte. Allerdings wird es wohl nicht mit einem Schutz der Spieler, die homosexuell lieben, gegen die Angriffe von außen getan sein. Das System Bundesliga braucht Kämpfer*innen, die es auch von innen heraus verändern und sich den dortigen anti-homosexuellen Praxen entgegenstellen. Gott stärke alle, die sich dieser Aufgabe annehmen.

 

 

* Dieser Artikel befasst sich mit den Verhältnissen in der deutschen Fußball-Bundesliga der Herren, die Situation der Frauenliga wird hier nicht aufgegriffen, weshalb auch die Personenbezeichnungen weitgehend nur im Maskulinum verfasst sind.

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