Im preisgekrönten Film "Barbie" aus dem Jahr 2023 tauchen wir ein in die rosarote Welt der Frauen respektive Barbies. Frauen besetzen alle relevanten Positionen, bestimmen und herrschen und umgeben sich mit gut gebauten "Kens", die die niederen Dienste leisten und als Spielgefährten zur Verfügung stehen. Alles ist toll, mit viel Glitzer und Prosecco.
Und manche/r Kinobesucher:innenin denkt vermutlich: Ach, wäre die Welt doch so!
Szenenwechsel: Im Nordosten Indiens leben einige der wenigen matrilinearen Völker der Welt. Es herrscht dort kein Matriarchat, aber die Mütter geben ihren Namen (die Linie) als Familiennamen weiter, die Männer ziehen auf das Land/Hof der Frau, da die Frauen alleinige Land-Erbinnen sind und den Familiensitz bestimmen. Es erbt die jüngste Tochter.
Ein Kontrast zum patriarchalen Mainstream
In fast allen anderen Teilen Indiens herrscht hingegen ein unübersehbares Patriarchat vor. Es herrscht sehr sichtbar in Macht- und Gesellschafts- und Religionsstrukturen und leider auch unsichtbar in häuslicher Gewalt. Indien hat die interessante rechtliche Besonderheit, dass die religiösen Gesetze vom säkularen Staat für die jeweilige Gruppe anerkannt werden. Also, wenn in muslimischen Regionen eine Polygamie erlaubt ist, ist sie auch rechtlich gültig, aber nur für Muslim:innen. Für Christ:innen ist sie verboten. Bestimmte Erb-, Ehe- und Namensrechte werden religiös organisiert und dann staatlich gruppenbezogen anerkannt. So können matrilineare und zum Beispiel polygame Strukturen rechtlich abgesichert nebeneinander gelten.
Silja Joneleit-Oesch ist promovierte evangelische Missionswissenschaftlerin und Theologische Referentin bei der Evangelischen Mission Weltweit (EMW).
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Aus dem Kontext von mainland Indien kommend, erlebe ich die Personen in Nordost-Indien als sehr frauen-freundlich und egalitär miteinander. Das merkt man schon am Augenkontakt, am Sprechen miteinander, an der Körpersprache. Musikalische Leiterinnen, Professorinnen, Rektorinnen und andere sichtbar agierende Frauen werden sehr entspannt und respektvoll wahrgenommen, auch und besonders von Männern. Das ist sehr wohltuend zu erleben.
Weißer Feminismus lässt sich nicht einfach andocken
Nun sind diese matrilinearen Völker in allergrößter Mehrheit christlich. Ergibt sich daraus nun die perfekte Kombination: hier ausgeglichene, eher frauen-freundliche Verhältnisse und Traditionen + das eher patriarchal überlieferte Christentum = eine egalitäre Religion in Summe?
Gelebte und mit Glauben erfüllte Inkulturation funktioniert allerdings nicht so… Mein weiß gelernter Feminismus ist kein Konzept, das an diese indigenen Kulturen einfach anzudocken wäre. Wir können uns keine christliche Barbie-Welt basteln, das hat schon im Film nicht geklappt.
(Westliche) Feministische Theologie hat sich im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Frauenbewegung, mit Aufklärung und Demokratisierungen Europas und Nordamerikas entwickelt. In diesem historischen Zusammenhang war und ist es "dran", doch nicht automatisch auch in anderen Weltregionen und Kontexten. Im indigenen matrilinearen Nordosten Indiens emanzipieren sich christliche Gemeinschaften zurzeit dadurch, dass sie indigene Traditionen zum Beipsiel in ihre gottesdienstliche Liturgie integrieren. Sie entdecken neu, dass ihnen mit dem Christentum viel westliche Kultur mitgeliefert wurde, die nicht notwendigerweise zum Evangelium, das sie angenommen haben, gehört. Sie entwickeln eine selbstbewusste, eigenständige und kontextuelle Theologie und lassen sich nicht (wieder) die theologischen Trends diktieren.
Indigene Theologie bereichert
Die Theologin Eyingbeni Hümtsoe-Nienu aus dem Nordosten Indiens formuliert einen gender-egalitären Entwurf, der die femininen Bezeichnungen der Erde und des Göttlichen aus der indigenen Tradition mit biblischen, auch männlichen, Gottesvorstellungen zusammenbringt. Sie zeigt auf, dass eine Geschwisterlichkeit unter den Geschlechtern und die Elternschaft Gottes passende und biblische Bilder sein können, um die Partnerschaftlichkeit unter den Geschlechtern und die Verantwortung vor Gott neu und kontextuell denken zu können: "Das Imago Dei ist ein Thema, das als Ausgleich zwischen den Geschlechtern fungiert, insbesondere wenn die Geschlechter als Geschwister einer gemeinsamen Elternschaft wahrgenommen werden."
So könne eine Versöhnung und Integration indigener Konzepte erreicht werden und gleichzeitig Gottes Auftrag an uns zur Bewahrung der Schöpfung ernst genommen werden. Nur in einer geschwisterlichen Haltung würden wir der Ebenbildlichkeit Gottes (Imago Dei) gerecht.
Es geht hier also nicht um die Reproduktion von (westlichem/ weißem) Feminismus, sondern um das Hören auf die Schöpfungsgeschichte der Genesis mit den Ohren der Personen der matrilinearen Völker. Es geht darum, zu verstehen, wie die Mission Gottes (Missio Dei) hier wirkt: Alle Menschen arbeiten zusammen in der Bewahrung der Schöpfung, das ist existenziell. Noch einmal Hümtsoe-Nienu: "Aber die Möglichkeit, den mütterlichen Aspekt Gottes und das damit verbundene Bild von Frauen und Natur als mütterlich zu überdenken, hat das Potenzial, nicht nur die Art und Weise, wie Männer Frauen wahrnehmen, positiv zu beeinflussen, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen die Natur und Gott wahrnehmen."
Keine Barbie-World, keine Ken-World, sondern eine Bereicherung unseres Denkens kommt aus der indigenen Theologie des Nordosten Indiens. Das ist kreativer und überraschender als jede dieser Film-Welten.
evangelisch.de dankt der Evangelischen Mission Weltweit und mission.de für die inhaltliche Kooperation bei diesem Beitrag.