Radas Aufbruch in die Zukunft währte nur kurz. Nun liegt sie mit gefalteten Händen im weißen Kleid in einem Birkenwäldchen, friedlich zur letzten Ruhe gebettet; heute ist sie 18 Jahre alt geworden. Als ihre jüngere Schwester Anna sie anruft, schallt als Klingelton "Unchained Melody" von den Righteous Brothers durch den Hain.
Seit der Thriller-Romanze "Ghost – Nachricht von Sam" (1990) steht die melancholische Ballade für eine Sehnsucht, die keine Erfüllung findet. Damit ist der Tonfall für den siebten "Masuren-Krimi" gesetzt, und das in doppelter Hinsicht, denn auch Kriminaltechnikerin Viktoria Wex ist einem Geist begegnet: Ihr vermeintlich bei einem Anschlag gestorbener Mann Felix lebt noch. Er war verdeckter Ermittler, Viktoria bloß eine Tarnung; bis er sich in sie verliebte. Sein Tod sollte sie aus der Schusslinie nehmen. Nun will er wie Rada irgendwo ein neues Leben beginnen, zusammen mit Viktoria (Claudia Eisinger); ihr bleiben sechzig Stunden, um sich zu entscheiden. Aber erst will sie herausfinden, warum Rada sterben musste: Das Mädchen hat Helium inhaliert und ist schließlich erstickt. Aber war es Suizid oder ist sie ermordet worden? Und dann ist da ja noch Polizist Pawlak (Sebastian Hülk), mit dem sie längst viel mehr als bloß die berufliche Kollegialität verbindet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
"Liebestod" wäre auch ohne den von Viktoria regelmäßig verkündeten Countdown ein fesselnder Krimi, denn die Umstände von Radas Ableben sind mehr als rätselhaft: Zwei senkrechte Striche auf ihrer rechten Wange erinnern an die Schwarze Madonna von Tschenstochau. Das Kloster mit der Statue ist einer der wichtigsten Wallfahrtsorte der katholischen Kirche, Rada war hier kürzlich zusammen mit ihrem Onkel Antoni (Peter Schneider), der nach dem Tod seines Bruders zum Ersatzvater für sie und Anna (Mariella Aumann) geworden ist. Schwägerin Mirka (Katharina Schüttler) ist eine tiefgläubige Frau, die ihre Töchter vor der Verdorbenheit der Welt bewahren wollte, deshalb hat sie Rada allabendlich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Antoni hat ihr beim nächtlichen Ausbruch geholfen, mit ihrem Freund Dimitri (Yuri Völsch) wollte sie auf und davon. Als in ihrem Blut Spuren eines Beruhigungsmittels für Pferde gefunden werden und sich außerdem rausstellt, dass Rada den jungen Mann bloß als Fluchthelfer benutzt hat, steht Dimitri unter Mordverdacht. Die Mutter hätte allerdings ebenfalls ein Motiv; und in ihrem Stall findet sich das Sedativum.
Filme von Nicolai Rohde sind grundsätzlich sehenswert. Zuletzt hat er "Allein zwischen den Fronten" (2024, ZDF) gedreht, ein herausragend gutes Drama über einen Polizisten, der nach einer eskalierten Demonstration als Gewalttäter angeprangert wird, davor die spannende erste Staffel der Netflix-Serie "Totenfrau" (2023) mit Anna Maria Mühe als Rächerin. Seine erste Arbeit für den "Masuren-Krimi" ist zwar ebenfalls mit großer Sorgfalt gestaltet (Kamera: Eeva Fleig), lebt aber vor allem von der dramaturgisch wirkungsvoll konzipierten Geschichte (Drehbuch: Olaf Kraemer, Nadine Schweigardt) und den Mitwirkenden. Gerade Mariella Aumann ist nach ihren ähnlich einprägsamen Auftritten als Titeldarstellerin des Films "Die einzige Zeugin" (2025) aus der ZDF-Reihe "Unter anderen Umständen" sowie zuletzt als einzige Überlebende einer Mordnacht in der "Tod am Rennsteig"-Episode "Haus der Toten" (beide 2025) erneut sehr eindrucksvoll.
Kamera, Kostüm und Szenenbild sorgen ohnehin dafür, dass sich die geistige Enge des düsteren Elternhauses perfekt vermittelt. Katharina Schüttler versieht die strenge Mutter mit einer Askese, die gut nachvollziehen lässt, warum auch Anna bloß noch ein Ziel hat: nichts wie weg. Mirkas Glaube steht nicht für Liebe, sondern für Unterdrückung, zumal sie einst große Schuld auf sich geladen hat. Radas Tod wäre demnach ihre Sühne. Die tragische Figur der Geschichte ist jedoch der sichtlich unter den Symptomen einer schweren Krankheit leidenden Schwager. Auch er trägt schwer an einer Last, weil er glaubt, für den Unfalltod seines Bruders verantwortlich zu sein.
Gemessen an diesen Schicksalen wirkt Viktorias Liebesdilemma zwischen zwei Männern wie ein Luxusproblem. Umso amüsanter sind die Szenen mit Matilda Jork als Pawlaks Tochter. Sehr witzig ist zum Beispiel eine quasioffizielle Befragung durch den Vater sowie dessen Chefin und Ex-Frau (Karolina Lodyga). Dank der jungen Schauspielerin, die bereits in ihren Kinderrollen sehr beeindruckend war, entwickelt sich Emilia in eine interessante Richtung, zumal ihre Suche nach sexueller Orientierung eine verblüffende Parallele zu Rada aufweist.