Eigentlich hätte auch in diesem Jahr eine Gedenkveranstaltung zum Welt-Aids-Tag auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof in Berlin stattfinden sollen. Eigentlich wollte ich, wie im Jahr zuvor, darüber berichten. Doch wie so vieles in 2020 musste auch die für den 5. Dezember geplante Feier abgesagt werden. Statt in der Gruppe sollte das Gemeinschaftsgrab Denkmal PositHIV einzeln besucht werden. In Erinnerung an all die, die aufgrund der Immunschwächekrankheit starben. In diesem Jahr stehen weitere fünf Namen auf der dunklen Marmor-Stele des Grabmals. Ein Kranz (Foto) wurde aber von Mitgliedern des Vereins trotzdem aufgestellt und auch das Berliner Vokal-Ensemble "Die Goldvögel", das schon 2019 die Feierlichkeiten musikalisch begleitet hatte, ließ es sich nicht nehmen, das Grab zu besuchen. Sie sangen "Es ist ein Ros entsprungen". (Eine Video-Aufnahme ist auf der Facebook-Seite des Ensembles zu finden.)
All das sind Bestandteile eines eigentlich gemeinsam begangenen Rituals. Es sind engagierte Zeichen, trotz der aktuellen Pandemie an eine andere Pandemie zu erinnern. Im Umgang mit einem Virus hat die queere Community eine Geschichte und wir sollten uns jetzt der besten Momente dieser Geschichte erinnern, daran, worauf es in Krisen ankommt: auf Aufklärung und Solidarität.
Auch Weihnachten - und hier ist hauptsächlich das säkulare Familienfest gemeint, zu dem sich die Geburtsfeier entwickelt hat - wird von Corona überschattet: von der Angst vor einer Infektion ebenso wie von der Trauer, wenn ein naher Mensch an/mit der Virusinfektion gestorben ist. Eine Feier, die meist gemeinsam begangen wird, muss in diesem Jahr an die Umstände nicht sinkender Covid-19-Infektionszahlen und aktuell steigender Todeszahlen angepasst werden. Um es flapsig zu sagen: Es wird irgendwas zwischen Social Distancing und Corona-Biedermeier werden müssen. Eine Feier, die aus "sicheren" Bestandteile des vertrauten Rituals bestehen wird: Welche davon werden bewahrt, welche verworfen oder auf welche Weise neu arrangiert? Nicht vergessen werden sollte:
Für manche in der queeren Community kann die Übermacht der heteronormativen Kleinfamilie in diesen Tagen eine Herausforderung darstellen. Auch dies möglicherweise von Erinnerungen an die Aids-Krise geprägt, als viele wegen einer HIV-Infektion und/oder des dadurch erzwungenen Outings als homosexuell aus ihren Familien ausgeschlossen wurden. Als auch Kirchen den Sterbenden letzte Rituale versagten. Nicht nur aus diesem Grund spielen Wahlfamilie, Freund*innen, soziale Netzwerke für die queere Community schon immer eine wichtige Rolle. Die Corona-Beschränkungen bedrohen auch diese Strukturen: Reisen sollen möglichst unterbleiben, Kneipen, Clubs, alle möglichen Treffpunkte, die über die Feiertage besucht wurden, sind nun geschlossen. Das Wegbrechen dieser Netzwerke, sagt im Interview mit Berlins queerem Magazin "Siegessäule" die Psychologin Julia Tomanek, "kann sich sehr bedrohlich anfühlen und damit wiederum den empfundenen Stress erhöhen". Andererseits sei die LGBTQI*-Community "auch daran gewöhnt, diese Netzwerke selbst zu strukturieren, weil wir wissen, dass sie nicht einfach auf der Straße liegen".
Es wäre ein schönes Zeichen, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer in ihren Weihnachtspredigten nicht ausschließlich die Kleinfamilie Mann-Frau-Kind adressieren würden, sondern auch an die Patchwork-Familien, an die Wahlfamilien, an die in dieser Zeit wichtigen Freund*innen erinnern würden. Ein Extra-Wunsch käme noch dazu: Über Singles, Alleinlebende nicht im bemitleidenden Ton als Mängelwesen reden, sondern auch Singles ernst nehmen in ihrer Fähigkeit, sich ihre "Familien", ihre Gemeinschaften, die ihnen Halt geben, organisieren zu können. Denn es geht in der Weihnachtsgeschichte nicht vorrangig um die Familie - zunächst geht es um die Geburt von Jesus Christus und um das Versprechen, die frohe Botschaft von "Frieden auf Erden". Nicht die Kleinfamilie als solche ist das Bollwerk gegen die Covid-Pandemie, sondern Aufklärung und Solidarität. Wie in jeder Krise.