Virus-Krise(n) und Zusammenhalt

Virus-Krise(n) und Zusammenhalt
Umgang in der queeren Szene mit HIV-Virus und Corona-Virus.
© fotoART/Thommy Weiss/pixelio
Wolgang Schürger stellt Überlegungen an über die Reaktionen auf HI- und Corona-Virus und den Umgang in der queeren Szene damit.
Wolfgang Schürger kann sich noch gut an die Anfänge des HI-Virus erinnern. Was kann die queere Community aus der HIV-Krise lernen, um die Corona-Krise zu bewältigen?

Auch hier in München ist die Digitalisierung unserer Welt nicht spurlos an der queeren Szenekultur vorüber gegangen: Sonnen- und Müllerstraße, einst die zentrale Achse des "schwulen Viertels" sind zur "Feierbanane" geworden, viele schwule Bars sind verschwunden.

Und doch hatte ich in den letzten Jahren immer wieder den Eindruck, dass sich das queere Leben in der bayerischen Hauptstadt von anderen Großstädten der Republik unterscheidet. Was trotz allen Kneipensterbens nämlich geblieben und vielleicht sogar gewachsen ist, ist eine rege queere Vereinskultur: Der GOC - gay outdoor club als anerkannte queere Sektion im Deutschen Alpenverein, der MLC - Münchner Löwen Club, einer der ältesten und größten Fetisch-Vereine im deutschsprachigen Raum, mehrere queere (Tanz-)Sportvereine, ebenso einige queere Chöre und Orchester. Eine queere Gottesdienstgemeinde darf da natürlich nicht fehlen.

Gemeinsam tragen diese Vereine und ihre Mitglieder zum Beispiel Sorge dafür, dass das SUB als nicht-kommerzieller Szene-Treffpunkt in der Müllerstraße jeden Abend geöffnet hat; die Bardienste sind überwiegend ehrenamtlich. Auch beim Münchner CSD ist die Vielfalt dieser Vereine nicht zu übersehen, viel mehr als an anderen Orten ist er eine Veranstaltung der ganzen Community.

Jeder dieser Vereine hat seinen eigenen Schwerpunkt, aber in jedem entwickelt sich natürlich auch ein soziales Leben und eine soziale Gemeinschaft, die über den Vereinszweck hinaus verbindet. Themenabende, Clubabende, gemeinsame Veranstaltungen oder eben der gemeinsame Bardienst im SUB - doch alles nicht mehr möglich in einer Zeit, in der "soziale Distanzierung" aus gutem Grund das Gebot der Stunde ist.

In der WhatsApp-Gruppe der aktiven Ehrenamtlichen eines dieser Vereine haben sich in den letzten Tagen viele mit Beiträgen zu Wort gemeldet wie "Ich vermisse euch!", "Ihr fehlt mir!", "Ich möchte euch bald wieder treffen!". Dating-Apps mögen schnelle Kontakte in der digitalen Welt ermöglichen und auch zu erfüllten Begegnungen in der realen Welt führen. Sozialen Zusammenhalt vermitteln sie jedoch eher selten. Was ich hier in unserem Vereinsumfeld erlebe, ist etwas anderes und hat eine andere Qualität: Man nimmt sich wahr, gibt aufeinander acht - und sucht Wege, der sozialen Vereinzelung zu wehren. Heute Abend werden wir uns zu einem Video-Stammtisch treffen!

Als schwuler Mann, der die Anfänge des HI-Virus noch erlebt hat, ertappe ich mich in den letzten Tagen immer wieder dabei, dass ich unsere Reaktionen auf HI- und Corona-Virus miteinander vergleiche. Das HI-Virus war tödlich - und ist es in vielen Teilen der Welt bis heute. Der Tod aber kam langsam, nicht innerhalb von vier bis fünf Wochen wie bei Corona. Die Übertragungswege waren sehr bald geklärt, auch wenn die Angst lange Zeit groß blieb, zum Beispiel durch Anhusten angesteckt werden zu können. Und diese Übertragungswege waren so, dass man sich entweder relativ gut schützen konnte - oder die Infektionen als Randgruppen- und Minderheitenproblem abtun konnte. Letztere Haltung führte dann hier in Bayern zwischenzeitlich zu der politischen Forderung nach Internierung und Isolation aller Infizierten. Viele Menschen aus den sogenannten "Risikogruppen" zögerten daher, sich testen zu lassen... Wer ein positives Testergebnis wusste, hielt dies häufig geheim, aus Angst, sonst keine Sexualpartner mehr zu finden und in der Szene isoliert zu sein. Für viele war dies übrigens auch dann noch eine (durchaus berechtigte) Sorge, als wirksame Therapien auf dem Markt waren.

Gegenüber dem Corona-Virus ist Selbst-Isolation heute das Gebot der Stunde - den Zusammenbruch unserer Gesundheitssystems möchte sich niemand vorstellen! Doch Wortmeldungen wie in unserer WhatsApp-Gruppe machen auch deutlich, dass wir das als Gesellschaft nur für eine begrenzte Zeit durchhalten können: nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die psychischen Folgen werden sonst immer drastischer! Im Moment kann ich mir, ehrlich gesagt, nur schwer vorstellen, wie unser soziales Miteinander im Herbst dieses Jahres aussehen wird: Risikogruppen in (Zwangs-)Isolation zu schicken, wie dies inzwischen gefordert wird, kann ich mir nur schwer vorstellen. Doch einen Impfstoff für diese besonders gefährdeten Personen wird es wohl frühestens in einem Jahr geben. Werden wir also auch im Herbst alle noch in sicherer Distanz zueinander auf den Straßen unterwegs sein? Auch in Bars und Cafés nur mit Abstand kommunizieren? Oder werden diese gar immer noch geschlossen sein?

Ermutigend sind für mich die vielen neuen, kreativen Ideen, wie in der sozialen Distanzierung trotzdem wieder ein Miteinander entstehen kann: Die Balkon-Konzerte, die wir seit Wochen in Italien, nun aber auch in Deutschland erleben können, das gemeinsame Gebet zu einer festen Uhrzeit, das mit der Kerze im Fenster sichtbar gemacht wird, solidarische Nachbarschaftshilfe für diejenigen, die besonders bedroht sind. Und ja, auch der virtuelle Stammtisch heute Abend.

In Krisen wohnt immer auch die Chance zum Neuanfang - die biblischen Texte sind voll von dieser Erfahrung. In der HIV-Krise der 80er und 90er Jahre hat die schwule Szene bewiesen, zu welcher Solidarität sie fähig ist: Aids-Hilfen mussten lange mit sehr wenig staatlicher Förderung und sehr viel ehrenamtlichen Engagement auskommen. Deutlich aber war: Wir lassen keinen zurück - und keinen in der Isolation. Uns an diese Zeiten zu erinnern, kann uns helfen, auch die Zeit in und nach der Corona-Krise zu gestalten!

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