"Das Leben entwickelt seine eigene Logik." Der von Erol Yildiz vom Institut für Erziehungswissenschaft an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt ganz am Schluss geäußerte Satz hätte als Motto gut zur gesamten Fachtagung "Familie von morgen. Neue Werte für die Familie(npolitik)" gepasst. Noch mehr: Es ist ein guter Leitsatz für jede Form gesellschaftlicher und/oder kirchlicher Arbeit, also auch für die Veranstalter: die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld in Kooperation mit der Evangelischen Akademie zu Berlin und dem Evangelischen Kirchenkreis Berlin Stadtmitte.
Die Definition "Familie ist da, wo Kinder sind" ist heute gesellschaftlicher Konsens. Erst dadurch wird statt eines normierenden Begriffs, wie Familie zu sein habe, die Funktion, die Bedeutung von Familien in den Blick genommen. Der Anstieg der Zahl nicht-ehelicher Kinder, die wachsende Zahl von Familien mit einem Elternteil, Patchworkfamilien, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit Kind sind (auch) Folgen eines gesellschaftlichen Wandels, der mit Pluralisierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung von Lebensweisen umrissen werden kann. Christopher Neumaier vom Zentrum für Zeithistorische Forschung an der Universität Potsdam entzauberte gleich zu Beginn manchen Mythos um die christlich-bürgerliche Kernfamilie, die interessanterweise meist die Fünfziger-Jahre-Familie der Bundesrepublik als Bezugspunkt hat. Er bezweifelte auch den gängigen Vorwurf, dass mit der Individualisierung die Familie als solche abgewertet worden sei und dass überhaupt von einem radikalen Bruch mit familialen Modellen gesprochen werden könne.
Die Soziologin Nina Wehner von der Ev. Hochschule Freiburg konstatierte, lediglich eine "hegemoniale" Form der Familie sei ins Wanken geraten. Stattdessen etabliere sich "Doing Family" als neue Praxis: das Zusammenleben wird wesentlich durch die Interaktion aller Beteiligten gestaltet. Dies übrigens nicht zuletzt aufgrund sich verändernder Erwerbssituationen, die ein hohes Maß an Planung, Mobilität und Flexibilität von Familien erwartet. Auch lockere sich der enge Zusammenhang zwischen Ehe und Familie. Dies wurde später in der Diskussion aufgegriffen in der Frage, ob nicht bereits "gute Elternschaft" / "gute Partnerschaft" als neue Norm mit einer spezifischen Erwartungshaltung an die Stelle von Ehe trete.
Dazu passend skizzierte der Sozialpädagoge Matthias Euteneuer von der Universität Dortmund in seinem Vortrag über Familien als Bildungsorte den gestiegenen Druck auf Eltern, Kindern eine Bildung zuteilwerden zu lassen, die an eine schulische Bildung anschlussfähig ist. Dagegen machte er ein vernachlässigtes Verständnis von Familie als ganz eigenes ‚soziales Biotop‘ stark, das sich nicht in einer Zulieferfunktion für Schulen erschöpfe, sondern Beziehungs-, Fürsorge- und Alltagsfähigkeiten vermittele. Gerade für die Herausbildung von Werten sei Familie ein zentraler Ort.
Dieser Gedanke schien am letzten Tag bei Ralf Evers von der Evangelischen Hochschule Dresden nochmals auf. In seinem philosophisch-ethisch geprägten Vortrag "Lob der Vielfalt" nannte er Familien "Orte generativer Solidarität", deren Funktion in der Sozialisation von Solidarität wie auch der Verwirklichung von Würde liege. Auch Ralf Evers wandte sich nachdrücklich gegen die Kritik, bei der Vielfalt von Familienformen handele es sich um eine Krise oder gar Orientierungslosigkeit der Menschen.
Einen Einblick in die Situation von Regenbogenfamilien vermittelte Constanze Körner vom Berliner Regenbogenfamilienzentrum. Neben den bekannten Hürden und Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Paaren gerade hinsichtlich des Kinderwunsches bzw. der Adoption von Kindern machte sie deutlich, unter welchem hohen Erfolgsdruck sich homosexuelle Paare sehen. So würden Fehler oder gar ein Scheitern eines lesbischen Paares bei der Erziehung augenblicklich als Bestätigung des stets als erfolgreich hingestellten heteronormativen Modells gewertet: "Na klar, da fehlt ja auch der Vater!"
Mike Laufenberg vom Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin erinnerte daran, dass Normen nicht der Ausgangspunkt seien, sondern am Ende einer kulturgeschichtlichen Entwicklung stünden. Ihre Funktion es auch ist, dass andere sich in sie einpassen können. So könne sich heute - aus normativer Sicht - die Situation ergeben, dass ein schwules Paar mit Kind auf weitaus mehr Akzeptanz trifft als die alleinerziehende Mutter. Er warf in seinem Beitrag "Grenzen der Vielfalt" auch die grundlegende Frage auf, ob die Fokussierung auf Regenbogenfamilien ihrerseits nicht andere Formen von Familie und Partnerschaft einenge.
Letztlich wurde während der Tagung deutlich, dass vielfältige Familienmodelle nicht erst das Morgen, sondern bereits das Heute prägen. Das schließt etwa auch jene Familien ein, die sich mittlerweile in einer vernetzten mobilen Welt über große Distanzen realisieren. Das gilt auch dann, wenn bestimmte Ansätze, wie etwa die Mehrelternschaft, sich bereits abzeichnen, gleichwohl bislang jeder gesetzliche Rahmen dafür fehlt. Von einer Idealisierung einer einzelnen Familienform waren alle Vortragende weit entfernt. Interesse an der Vielfalt, an dem, was ist - an der Logik, vielleicht auch Unlogik des Lebens -, prägte die Gespräche.
Gerade die Kirche kann, so wäre (m)ein Fazit, viel gewinnen, wenn sie ein wenig von ihrer Scheu vor Kooperationspartnern wie der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld verliert und weitere gemeinsame Experimente wagt und zulässt. Wie es eine Tagungsteilnehmerin sagte: "Es ist doch ganz erstaunlich, dass im Lob der Vielfalt theologisch-christliche Sicht und lesbisch-schwule-trans-Lebensweisen viele Berührungspunkte haben."