Ein protestantischer Blog an Allerheiligen, einem der "katholischsten" Feiertage - wenn das nur mal gut geht... Die ausufernde Heiligenverehrung war für Martin Luther ja neben dem Ablasshandel einer der wesentlichen Gründe, für eine Reformation der Kirche zu kämpfen.
Im Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana) von 1530 stellen die lutherischen Fürsten aber auch fest, dass die Heiligen durchaus eine nützliche Vorbildfunktion für den Glauben haben: "Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, daß man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf." (Art. 21)
Dass Martin Luther Heiligenverehrung und Ablasshandel so stark bekämpfte, hing mit seiner reformatorischen Grundeinsicht zusammen: Nicht wir müssen vor Gott gerecht werden, sondern Gott selbst spricht uns aus seiner Liebe heraus gerecht. Das heißt für Luther dann in der Konsequenz, dass ich mit allem, was mich bewegt und belastet, direkt vor Gott treten kann - und also nicht der Fürbitte einer Heiligen bedarf oder gar eines Ablassbriefes des Papstes.
Als Vorbilder im Glauben aber können Heilige durchaus hilfreich sein, das betont das Augsburger Bekenntnis. Die "klassischen" Heiligen sind für viele von uns heute sehr fern, aber in Brasilien habe ich erlebt, wie moderne Heilige entstehen und welche Kraft sie haben: Ich habe dort in den 90er Jahren viel mit der Bewegung der landlosen Bauern zusammen gearbeitet, die für eine Landreform kömpft. Immer wieder kam es dabei zu Auseinandersetzungen mit der Militärpolizei oder Privatarmeen von Großgrundbesitzern, immer wieder gab es dabei auch Tote zu beklagen.
Die progressiven Teile der Kirchen in Brasilien unterstützen diesen Einsatz für eine Landreform. Regelmäßig werden zum Beispiel sogenannte "Landwallfahrten" gefeiert, mit denen die Kleinbauern unterstützt werden. Seit den 80er Jahren wird bei diesen Landwallfahrten und auch bei anderen Gelegenheiten wie dem "Basiskirchentag" (Intereclesial das CEBs) der Ermordeten gedacht, ihr Einsatz und ihr Leiden wird in Analogie zum Martyrium der "klassischen" Heiligen gesehen. Die Bekanntesten von ihnen werden bei den Wallfahrten auf Bildtafeln wie eine Ikone mitgetragen. Der weltweit bekannteste dieser modernen Heiligen ist vermutlich Oscar Romero, der ehemalige Erzbischof von El Salvador, der wegen seines Engagements für die Armen am 24. März 1980 während einer Messfeier ermordet wurde. Papst Franziskus hat ihn am 23. Mai 2015 offiziell selig gesprochen.
Vielleicht ist die eine oder der andere beim Lesen nun schon ins Nachdenken gekommen, was wir Queers so an Ikonen haben. Glorai Gaynor, Barbra Streisand, George Michael - im Show- und Musikbereich werden viele ja immer wieder als "schwule Ikone" bezeichnet. In San Francisco bin ich aber vor Jahren schon auf eine reale schwule Ikone getroffen. Im klassischen Stil der orthodoxen Ikonographie zeigt sie Harvey Milk, einen der frühen Vorkämpfer für "gay rights" in den USA.
Milk diente von 1951 bis 1955 in der US-Marine, wo er natürlich in keiner Weise offen schwul auftreten konnte. Im Jahr 1972 zog er in den Castro-District in San Francisco, damals noch ein eher unbeachtetes Stadtviertel, und eröffnete einen Fotoladen. Schon bald engagierte sich Milk für die Menschen in seinem Stadtteil und setzte sich dabei gleichermaßen für die lokalen Einzelhändler, die Industriearbeiter, ethnische Minderheiten, verarmte Alte und Lesben und Schwule ein.
1977 wurde Harvey Milk in den Stadtrat von San Francisco gewählt - als erster schwuler Mann in Kalifornien überhaupt. Am 27. November 1978 wurde er zusammen mit Bürgermeister George Moscone von dem ehemaligen Stadtrat Dan White erschossen, der mit der liberalen Menschenrechtspolitik von Moscone und Milk nicht einverstanden war. 40.000 Menschen kamen noch in derselben Nacht zu einer Mahnwache vor dem Rathaus zusammen. Das überaus milde Urteil gegen White von nur 7 Jahren Haft führte im Jahr darauf zu einer der schwersten Auseinandersetzungen zwischen Bürgerrechtsaktivist*innen und der Polizei in San Francisco. Nach nur fünf Jahren Haft wurde White vorzeitig entlassen und beging 1985 Selbstmord.
Die Ikone des Franziskaners Robert Lentz zeigt Milk mit einer Kerze in der Hand und dem Rosa Winkel um den linken Arm. Der Künstler erklärt dazu: "Milk hält die Kerze in der Hand, um damit selbst Gebetswache zu halten für die unterdrückten Menschen in allen Teilen der Welt. Er trägt ein schwarzes Armband mit dem Rosa Winkel, dem Zeichen der Nazis für Homosexuelle. Es steht für alle, die aufgrund von Homophobie und Hass auf sexuelle Minderheiten gefoltert und getötet wurden. Ihre Zahl steigt immer noch Jahr für Jahr. Und Christus hört nicht auf zu sagen: 'Was ihr einem dieser geringsten Menschen angetan habt, das habt ihr mir angetan.'"
In den Regenbogen-Gemeinden in den USA ist diese Ikone von Harvey Milk weit über Kalifornien hinaus präsent. Sie erinnert an einen, der sich mit Unrecht nicht abgefunden hat und im Glauben die Kraft fand, dagegen zu kämpfen. Sie gibt Kraft und Mut, sich auch heute für die Rechte aller Minderheiten zu engagieren. Auch wir in Deutschland haben - und brauchen - solche Vorbilder des Glaubens...