Herznah

Herznah
In der Bibel steht: "Liebe deinen Nächsten". Manchmal ist das leichter gesagt als getan.

Mitten auf der Straße läuft eine ältere Dame mit Rollator. Sie macht behutsame Schritte, als hätte sie Angst zu fallen. Alles an ihr wirkt zerbrechlich. Die Autos rasen an ihr vorbei. Und ich spreche sie an. Ganz freundlich. Frage, ob sie nicht lieber auf dem Bürgersteig laufen wolle, die Autos würden so schnell fahren. Ich biete ihr meine Hilfe am Bordstein an. Ohne Hintergedanken. Einfach, weil ich mir Sorgen um sie mache und es mich weder Kraft noch Zeit kostet, ihr kurz behilflich zu sein. Und die Frau rastet aus. Ihre Augen funkeln böse, sie schiebt mir den Rollator fest gegen die Schienbeine, schimpft, dass das doch keine Hilfe sei, ich solle mich davon scheren. Zum Teufel mit mir. „Du dumme Gans“, schreit sie mich an. Und ich taumle zurück. Bin irritiert. Weiß nicht, wie ich reagieren soll. Und lasse sie allein.  

Doch meinen ganzen Weg über lässt sie mich nicht los. Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe. Überlege, ob eine Krankheit sie so wütend macht, hoffe, dass sie eigentlich gar nichts für ihre Reaktion kann. Aber da bleibt ein Stich in meinem Herzen. Weil ich solche Situationen nicht zum ersten Mal erlebe.  Dass einem, aufrichtige Anteilnahme als Übergriffigkeit ausgelegt wird. Nettigkeit als Scheinheiligkeit unterstellt wird. Ein Lächeln sofort als Anmache aufgefasst wird.

Manchmal ist eine nächstenliebende Haltung eine echte Herausforderung. Sie ist anstrengend, ermüdend, in manchen Momenten geradezu herzzerreißend. Vor allem, wenn man das Herz dicht unter der Haut trägt. Denn sie macht einen angreifbar. Weil man etwas von sich zeigt, kurzfristig verschenkt, ohne Erwartung einer Gegenleistung. Nächstenliebe ist eine Haltung, die Rückgrat braucht. Weil sie sich nicht nur auf die beschränkt, die man eh schon gern hat. Und weil es einem so passieren kann, dass man zurückgewiesen wird. Weil „gut gemeint“ als das Gegenteil von „gut“ empfunden wird. Weil Hilfsbereitschaft, Zugewandtheit, Mitgefühl nicht unbedingt als etwas Normales verstanden wird.  

Und dann braucht es eine Weile. Ein paar Mal durchatmen, ein Stück Schokolade vielleicht, und eine Zeile aus einem Lieblingslied von Ben Howard: „Keep your head up, keep your heart strong.“

Trotz Zurückweisung, die egal aus welchem Grund geschieht: Kopf hoch und Herz behalten. Aufrecht und aufrichtig. Nah bleiben. Wach und wachsam und weich. Für die Nächsten. Auch, wenn sie sich manchmal ganz schön weit weg anfühlen. Es bleibt eine Übung.

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