Während der Coronavirus-Pandemie ging sie regelmäßig zu sterbenden Menschen auf die Intensivstation - auch im Auftrag von Angehörigen, die nicht Abschied nehmen konnten, teils selbst in Quarantäne waren. Einmal, erzählt Thierfelder, habe sie einer sterbenden Frau Weihnachtslieder vorgesungen, rund um sich herum eine gespenstische Atmosphäre: Auf der Station waren lauter Zwischenwände zur Abtrennung eingezogen worden, die Pfarrerin trug Schutzausrüstung. "Es war wie in einem Raumschiff", erinnert sie sich.
Vor fünf Jahren, am 9. März 2020, meldeten die Medien die ersten zwei Corona-Todesfälle in Deutschland: ein 78-jähriger Mann und eine 89-jährige Frau. Behörden nahezu in der ganzen Welt griffen damals angesichts der rasanten Ausbreitung der Covid-19-Pandemie zu drastischen Maßnahmen. Besonders groß war die Angst vor einer Ausbreitung der Krankheit in Kliniken und Altenheimen, denn ältere und kranke Menschen waren besonders gefährdet. Monatelange Zutritts- und Besuchsverbote, um die vulnerable Gruppe zu schützen, waren die Folge. In den Pflegeeinrichtungen wurden zusätzlich auch Ausgangsbeschränkungen für die Bewohner angeordnet.
Medizinsoziologen der Berliner Charité kamen in einer Studie zu dem Schluss, dass die Isolation während der Pandemie bei Heimbewohnern teils gravierende Folgen hatte. Die Mehrzahl befragter Einrichtungen berichtete von einer Zunahme von Verwirrtheit, Essensverweigerung und Aggressionen. Menschen seien nicht nur einsam gestorben, sondern in einigen Fällen auch "an Einsamkeit".
Konflikt zwischen Einsamkeit und Sicherheit
"Es war eine ethisch und moralisch extrem problematische Situation", sagt der Altersforscher Andreas Kruse, der während der Pandemiejahre Mitglied der Deutschen Ethikkommission war, im Rückblick. In Deutschland seien in so gut wie allen Altenpflege-Einrichtungen Bewohner vereinsamt. Da es immer wieder Ausbrüche mit Dutzenden von Toten gab, habe das Leitungspersonal aber andererseits auch alles tun müssen, um die Menschen zu schützen und den Zusammenbruch des Personals zu verhindern.
Die wichtigste Lehre aus dem Geschehen ist für den Altersforscher: "Stationäre Einrichtungen müssen sich unbedingt ein hervorragendes, immer wieder zu überprüfendes Hygienekonzept geben." Daran habe es bei Ausbruch der Coronavirus-Pandemie gemangelt, sagt Kruse, der auch dem Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) angehört.
Menschenunwürdig: Einsam sterben
Der Staatsrechtler Friedhelm Hufen äußerte bereits Ende 2020 in einer von dem Senioren-Dachverband in Auftrag gegebenen Studie Zweifel daran, dass die Abschottung Älterer und insbesondere Sterbender verfassungsrechtlich zulässig sei: "Die absolute Trennung Sterbender von ihren Ehepartnern, Kindern und Eltern und ein dadurch erzwungenes 'einsames Sterben' sind mit der Menschenwürde nicht vereinbar." Unmittelbar vor dem Tod müssten die "Wahrung der Würde und menschliche Zuneigung" den Vorrang vor Maßnahmen zur reinen Lebenserhaltung haben.
Doch nicht nur Sterbenden fehlte der Beistand wie in normalen Zeiten, sondern auch den Trauernden: Öffentliche Trauerhallen waren geschlossen, die Anzahl zulässiger Teilnehmer bei Beerdigungen war strikt reglementiert. "Natürlich gehört zu unserem Handwerk auch ganz viel Empathie", sagt Christian Jäger vom Bestatterverband für Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. "Trauernden die Hand geben, ihnen ein Taschentuch reichen - alles war ein Ansteckungsrisiko."
Die Probleme seien von der Politik nicht gesehen worden, klagt der Verbandsgeschäftsführer: "Wir waren keine systemrelevante Berufsgruppe und fühlten uns alleingelassen." Bestattungsunternehmen hätten zeitweise große Probleme gehabt, Schutzhandschuhe oder Masken zu beschaffen, Mitarbeitende durften nicht die Notbetreuung der Kitas in Anspruch nehmen. Die Wochenenden hätten Bestatter oft damit verbracht, die neuesten Corona-Verordnungen zu studieren und danach Trauerfeiern für den Wochenbeginn eiligst umzuplanen.
"Die Pandemie war ohnehin schon ein großer Stressfaktor, die üblichen mentalen Ressourcen waren da bei vielen nicht verfügbar", sagt die Psychologin Isabella Helmreich vom Mainzer Leibniz-Institut für Resilienzforschung mit Blick auf die Trauernden. Es könne passieren, dass Menschen in ihrem Trauerprozess steckenblieben, wenn die Möglichkeit gefehlt habe, Abschied zu nehmen. "Gegen Selbstvorwürfe sollte man alle Fakten zusammentragen - etwa damals bestehende Verbote oder die Sorge, andere Angehörige anzustecken", rät sie: "Das kann auch entlastend sein."
Familienmitglieder sterbender Covid-Patienten, die nicht ins Klinikum kommen konnten oder durften, hätten oft gefragt, ob die Angehörigen Schmerzen gehabt hätten. Wenn sie dies verneinen konnte, sei zumindest das vielen ein Trost gewesen, berichtet Klinikpfarrerin Thierfelder. Im Rückblick bricht sie eine Lanze für das Krankenhauspersonal, das sich bis zum Äußersten seiner Kräfte dafür eingesetzt habe, Sterbenskranken trotz aller Widrigkeiten ein würdevolles Lebensende zu ermöglichen. Inzwischen sei der Alltag wieder zurückgekehrt. "Im Krankenhaus ist Covid kein großes Thema mehr", sagt sie. "Trotzdem habe ich das Gefühl, es hängt allen noch nach."