Vesperkirche

Klöße unter der Kanzel
Vesperkirche
In immer mehr Kirchen gibt es eine Zeitlang günstiges Essen und mehr – nicht nur für Bedürftige.

Wann haben Sie das letzte Mal eine Schlange vor einer Kirchentür gesehen? OK, vielleicht an Weihnachten. Aber jeden Tag in der Mittagszeit? Derzeit können Sie das beispielsweise in Schweinfurt beobachten. Ab ungefähr 11:15 Uhr stehen die Menschen an, bis sich um Punkt 11:30 Uhr die Türen öffnen. Und dann kommen sie. Denn hier gibt es einen ganz besonderen Ort: Die Vesperkirche.

Für den eher symbolischen Preis von 1,50 Euro bekommen hier alle eine warme Mahlzeit mit Suppe, Hauptgang und hinterher Kaffee und Kuchen. Aber es soll eben doch keine Armenspeisung sein und auch kein „billiges Restaurant“. Sondern vor allem eines: Ein Ort der Begegnung. Auch deshalb werden die Gäste von den Gastgebenden (nicht einfach „Mitarbeitenden“) freundlich begrüßt und zu ihrem Tisch geführt – damit nicht immer die zusammensitzen, die sich sowieso schon kennen.

Und dann sitzt da die Gruppe Banker von der Filiale nebenan neben einer Frau, die die Gemeinschaft genießt, weil sie seit dem Tod ihres Mannes so alleine ist. Am Nachbartisch eine ehemalige LKW-Fahrerin, die vor langer Zeit einen Schlaganfall hatte. Vor allem an den Wochenenden auch mal Familien mit Kindern, die sich über die Spielecke freuen. Dazwischen auch mal jemand, der sein ganzes Hab und Gut in einer Plastiktüte dabei hat. Sie alle sitzen zusammen, essen miteinander, kommen mehr oder weniger gut ins Gespräch. Alle werden freundlich am Platz bedient, nur Kaffee und Kuchen gibt’s anschließend in Selbstbedienung.

Essen unterm Weihnachtsbaum: Die Vesperkirche Schweinfurt gehört natürlich noch in die weihnachtliche Freudenzeit! Da bleibt der Baum bis zum Ende stehen.

Ja, manchmal muss man eine ganze Weile in den Kirchenbänken warten, bis ein Platz am Tisch frei wird. Aber auch da kommen die Menschen oft schon ins Gespräch miteinander. Und nach dem gemeinsamen Essen geht’s zu den Aktions- und Sozialständen, die sich täglich abwechseln. Das sind Beratungsangebote der Diakonie, Energieberatung bis hin zur Obdachlosenhilfe, Blutdruck messen oder ein kostenloser Haarschnitt (Bedingung: Haare müssen gewaschen sein). Auch das Repair-Café ist einmal pro Woche da und bringt Dinge wieder in Ordnung, die noch repariert werden können.

„Für Leib und Seele“ ist das Motto der Vesperkirche. Und das stimmt: Nicht nur für den Leib ist gesorgt. Wer ein Gespräch braucht, findet einen Pfarrer oder eine Pfarrerin. Jeden Tag um ein Uhr gibt’s ein „Wort in der Mitte“, offiziell drei Minuten lang, aber nun ja. Wer gerade beim Essen sitzt, darf weiter essen, damit es nicht kalt wird, alles andere ruht für einen Moment.

In der allerersten Hochphase vor neun Jahren wurden teilweise über 500 Essen pro Tag ausgegeben, mittlerweile hat es sich bei knapp 300 eingependelt, die täglich von der Küche des Leopoldina-Krankenhauses angeliefert werden. Die Insider schauen dann einfach auf den Speiseplan des Krankenhauses, um zu erfahren, was es gibt – bei der Vesperkirche wird das bewusst nicht vorher angekündigt, denn sie soll ja kein Restaurant sein. Auf jeden Fall gibt es jeden Tag mindestens auch eine vegetarische Variante zur Auswahl. Heute steht Schweinebraten mit Kloß oder Eieromelette mit Spinat auf der Karte. Den Leuten schmeckt’s, und was noch wichtiger ist: Sie kommen in Kontakt miteinander, manchmal entwickeln sich sogar Freundschaften. Auch später grüßen sich viele, wenn sie sich in der Stadt begegnen. So trägt diese Vesperkirche dazu bei, sogar die Stadt-Gesellschaft zu stärken.

Auch im Chorraum der Schweinfurter St. Johanniskirche gibt es Essen und angeregte Gespräche.

In Schweinfurt startete die Vesperkirche vor neun Jahren, findet also nun zum zehnten Mal statt. In Corona-Zeiten gab es stark abgespeckte Varianten, aber irgendwas gab’s immer. Damals war sie die erste Vesperkirche in Bayern, heute gibt es weitere in Nürnberg, Coburg und Augsburg.

Das große Vorbild ist die St. Leonhardskirche in Stuttgart, die schon zum dreißigsten Mal öffnet und die deutlich größer ist: Sieben Wochen lang gibt es dort täglich bis zu 800 Portionen Essen. In Schweinfurt sind’s gerade mal zwei Wochen. Aber egal wo: An Mitarbeitenden ist kein Mangel. Überall sind Menschen bereit, sich für diesen Ort der Begegnung einzusetzen. Manche nehmen extra Urlaub, um hier mitmachen zu können, andere spenden mal ein oder zwei Kuchen. Nur am Geld hapert’s manchmal ein wenig, denn mit 1,50 Euro (oder anderenorts ein Euro) ist die Mahlzeit und das ganze Drumherum natürlich nicht bezahlt. Trotz vieler Gäste, die an der Kasse sehr großzügig aufrunden, und trotz einiger Großspenden auch von Unternehmen bleibt am Ende doch ein vierstelliger Minusbetrag, den sich Kirche und Diakonie als gemeinsame Veranstalter teilen.

So, finde ich, muss und kann Kirche sein: Ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen. Ein Ort, an dem Menschen gemeinsam essen und feiern, an dem sie Hilfe bekommen in seelischen und körperlichen Nöten. Und ein Ort, an dem sie Gottes Wort hören und es sozusagen live in Aktion erleben. Ich freue mich schon, heute wieder in der Kirche zu essen. Bin gespannt, wen ich diesmal treffe.

weitere Blogs

Heute erscheint der sechste und vorerst letzte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie. Katharina Payk fragt: Wo kommt Polyamorie im Kontext von Kirche und Pfarrgemeinde vor?
Wenn man beim Krippenspiel improvisieren muss, kann man bisweilen mit ganz elementaren Fragen konfrontiert werden...
Die EKD-Orientierungshilfe "Mit Spannungen leben" aus dem Jahr 1996 war für Wolfgang Schürger ein wichtiger Schritt zu einer Öffnung der protestantischen Kirchen gegenüber Queers. Junge Queers sehen in ihr heute ein Dokument "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit". Grund für einen Rückblick auf dreißig Jahre Kampf um queere Rechte in der Kirche - und einen Ausblick.