Lobe den Herren mit Tuten

Lobe den Herren mit Tuten

Als ich vor gut zwei Jahren meine völlig neue Stelle als Schweinfurter Citykirchenpfarrer antrat, gab es buchstäblich noch nichts. Ein paar Ideen, ja, die schon. Aber sonst? Nicht mal einen Raum, Telefon, Computer. Nun ja: Ein erster Ansatz für so eine Art Büro war bald gefunden. Halb im Keller, mit Gittern vor den ebenerdigen Fenstern, in den ehemaligen Räumen der Landeskirchlichen Gemeinschaft, die mittlerweile in ein eigenes Haus umgezogen war. (Was die Landeskirchliche Gemeinschaft ist? Darüber könnte man vermutlich hier eine ganze eigene Serie schreiben. Nur ganz kurz so viel: Es sind Menschen, die versuchen, ihren Glauben besonders ernst zu nehmen, und die sich neben den normalen Gemeindegottesdiensten noch zu eigenen Gottesdiensten treffen. Entstanden aus dem Pietismus und der Erweckungsbewegung im 18./19. Jahrhundert, aber bis heute zumindest in unserer fränkischen Gegend sehr aktiv.)

Ein kahler Raum, der Putz blätterte von den Wänden. Nur ein einziges Möbelstück: Ein Harmonium. Und schon geht es weiter mit dem Erklären: Ein Harmonium ist im Prinzip ein Akkordeon in Mini-Orgelform, das über zwei „Tretschemel“ mit den Füßen mit Luft versorgt wird. Vom Klang liegt es irgendwo zwischen Mundharmonika und Orgel – je nach Qualität der Ausführung näher an dem einen oder dem anderen. Auf jeden Fall: Es macht kleiner, handlicher und billiger tuuut als eine echte Orgel. Und war deshalb auch in kleinen religiösen Gruppierungen vor hundert Jahren außerordentlich beliebt.

Kindheitserinnerungen wurden da wach: An das Harmonium in unserem heimatlichen Gemeindehaus, das wir als Kinder regelmäßig malträtierten und das ich auch später, als halbwegs passionierter Klavierspieler, immer mal wieder ausprobierte. Die charakteristische Verzögerung zwischen Tastenanschlag und dem Erklingen des Tons, die mich schon damals zur Verzweiflung gebracht hat (ja, ich kann manchmal sehr ungeduldig sein, und eine halbe Sekunde auf ein noch dazu verstimmtes „Tuuut“ zu warten, gehört definitiv nicht zu meinen Tugenden). Die Choräle, die ich mehr schlecht als recht gelegentlich darauf begleitet habe. Die Aussetzer bei bestimmten Tasten, die einfach gar nicht mehr funktionierten.

Doch dieses spezielle, wirklich abgehalfterte Harmonium in meinem Behelfsbüro: Es strahlte noch mehr aus. Über Jahrzehnte, ja nahezu ein Jahrhundert, war es DAS Instrument gewesen bei allen Versammlungen und Gottesdiensten der Landeskirchlichen Gemeinschaft, da bin ich mir sicher. „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ - wie oft wurde das wohl auf diesem Instrument gespielt, getutet, inbrünstig mitgesungen von der Gottesdienstgemeinde? Was hat dieses Harmonium, auf dem ein Emblem prangt „Dritte Deutsche Kunstgewerbeausstellung Dresden MCMVI“ in den einhundert Jahren seines Lebens alles mitgemacht? Zwei Weltkriege. Zerstörung der Räume. Wiederaufbau, hastig, nach dem Krieg. Und Sonntag für Sonntag, oft auch unter der Woche, traf sich die Gemeinschaft hier und sang zu den langsam ermattenden Klängen des alten Harmoniums.

Doch nun war die LKG umgezogen. Moderner geworden. Statt Harmoniumklängen bevorzugt sie nun Gitarre und Keyboard. Das alte, ehrwürdige Instrument: Es wurde einfach stehen gelassen. Außer Dienst gestellt. Vergessen. Und ich? Ich schob es kurzerhand zwei Räume weiter in eine kleine Abstellkammer.  

Ein halbes Jahr später zog ich um in ein anderes Büro. Die Räume der LKG sind, soweit ich weiß, immer noch ungenutzt. Und das Harmonium steht in seiner Abstellkammer, tutet im Schlaf leise vor sich hin und träumt von den alten Zeiten, als es aus allen Registern tönte: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren.  

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