Als Blinder gesehen werden

Am Hamburger Rathausmarkt ertasten die Teilnehmenden einer Begleiterschulung ein Modell der Stadt.
Detlef Schneider
Am Hamburger Rathausmarkt ertasten die Teilnehmenden einer Begleiterschulung ein Modell der Stadt.
Barrierefreiheit & Gottesdienste
Als Blinder gesehen werden
Blinde Menschen sind in Kirchengemeinden oft nicht sichtbar – was nicht heißt, dass es sie nicht gibt. Bei einer Schulung lernen Sehende, wie sie Blinde und Sehbehinderte unterstützen können.

Der Abendbrottisch ist gedeckt. In der Mitte stehen eine Wurst- und eine Käseplatte, dazwischen ein Brotkorb, dazu kleine Schälchen mit Hering-, Thunfisch- und Walldorfsalat, Butter, Salz und Pfeffer, eine Teekanne und ganz links ein Tischmülleimer und eine Tulpe, die erste Blätter verliert. "Auf 12 Uhr findet ihr Schinkenwurst, auf 9 Uhr Salami, Jagdwurst auf 3 Uhr und auf 6 Uhr Schweinemett", erklären Jörg Stoffregen und Jochen Bartling die Anordnung auf dem Wurstteller. Alles genau zu beschreiben ist wichtig, denn die fünf Teilnehmenden der Schulung "Gemeinsam unterwegs – Sehende begleiten blinde und sehbehinderte Menschen" tragen allesamt eine Augenbinde. 

"Es war total frustrierend!", sagt Teilnehmerin Marisa hinterher. Referent Jochen Bartling ist Rehabilitationslehrer, der blinde und sehbehinderte Menschen darin schult, sich mit dem Langstock fortzubewegen und ihren Haushalt zu organisieren. Über das "Uhrzeitenprinzip" hatte er erklärt, wo die Butter steht, dabei aber gar nicht mit Marisa gesprochen, sondern mit Teilnehmer Günther. Beim Tasten über den Tisch fasste Marisa in den Heringssalat. Am liebsten habe sie nur noch Käse essen wollen, sagt sie, der stand direkt vor ihr. Gleich die erste Lektion: Blinde Menschen direkt mit ihrem Namen ansprechen.

Für ein Wochenende sind die Teilnehmenden ins Hamburger "St. Ansgar Haus" gekommen, einem Tagungshaus im Stadtteil St. Georg, nur wenige Gehminuten von der Alster entfernt. Die Männer und Frauen aus der kirchlich-diakonischen Arbeit wollen erfahren, wie sie blinde und sehbehinderte Menschen in ihren Gemeinden begleiten und Veranstaltungen möglichst barrierearm und für alle einladend und ansprechend gestalten können. Eines eint die kleine Gruppe dabei: Mit blinden oder sehbehinderten Menschen hatten sie bisher kaum Kontakt.

Leiter der Schulung Diakon Jörg Stoffregen (links) und Referent Jochen Bartling, Rehabilitationslehrer für Orientierung und Mobilität stehen vor dem St. Ansgar Haus in Hamburg.

"Blinde und sehbehinderte Menschen sind in den Gemeinden häufig nicht sichtbar", erklärt Diakon Jörg Stoffregen vom Netzwerk "Kirche inklusiv" der Nordkirche. Das Netzwerk veranstaltet die Schulung in Zusammenarbeit mit der "Fachstelle Ältere" der Nordkirche sowie dem Dachverband der evangelischen Blinden- und evangelischen Sehbehindertenseelsorge (DeBeSS). Das bedeutet aber nicht, dass es blinde Menschen in den Gemeinden nicht gibt.

Blinde Menschen in die Angebote einbeziehen

Häufig sind sie einfach nur nicht da. Rund 130.000 Menschen gelten in Deutschland laut Statistischem Bundesamt als blind oder hochgradig sehbehindert, hinzu kommen 230.000 Menschen mit einer Sehbehinderung. Da keine Meldepflicht besteht und exakte Zahlen nicht erfasst werden, ist die Zahl vermutlich höher. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht nach einer eigenen Erhebung von 1,2 Millionen blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland aus.

Während die Zahl der blind geborenen Menschen sinkt, nehmen aufgrund der älter werdenden Gesellschaft Augenerkrankungen im Alter zu. "Genau diese Menschen müssen wir in den Gemeinden in unsere Angebote einbeziehen", erklärt Jörg Stoffregen. "Wenn wir das nicht tun, bleiben sie zu Hause, und dann reden wir schnell über Einsamkeit." Auch Scham, mit schlechter werdender Sehkraft umzugehen, hat Jochen Bartling schon erlebt – häufig bei Männern. "Manche grüßen ihre Nachbarn nicht mehr, weil sie sie nicht erkennen, oder laufen gegen Gegenstände. Als Außenstehender weiß man dann zunächst gar nicht, was los ist." 

"Den Blinden durch die Gegend zerren" – No-Go

Die Übungen unter der Augenbinde setzen die Teilnehmenden im Freien fort. "Bitte meldet euch bei nichtsehenden Menschen immer an und nennt euren Namen. Und meldet euch ab, wenn ihr geht", sagt Jochen Bartling, der verschiedene Begleittechniken erklärt. Dazu gehören das Sich-Einhaken der blinden Person oberhalb des Ellbogens am Arm der Begleitung. Bordsteinkanten, Treppen, enge Stellen und Türen – auch an Laternen aufgehängte Wahlplakate auf Gesichtshöhe sind tückisch – müssen immer angesagt werden.

"Diese Dunkelheit war für mich zu viel", erzählt Petra, nachdem die Teilnehmenden sich in Zweiergruppen entlang der Alster auf den Weg zum Hamburger Rathausmarkt gemacht hatten. Der Lärm von Autos und das Überqueren von Straßen haben bei der Kieler Gemeindesekretärin für Anspannung gesorgt. Auch ich bin unter der Augenbinde sofort orientierungslos, als wir mit dem Langstock selbst Bordsteinkanten und Treppen ertasten. Als ich an ein Garagentor stoße und es nicht weitergeht, fühlt es sich an, als hätte ich mich in eine abgesperrte Baustelle hineinmanövriert, aus der ich allein nicht mehr herauskomme.

Autor Detlef Schneider Teilnehmer der Begleiterschulung, stößt mit dem Langstock an ein Garagentor.

Hilfe holen muss ich mir bei dieser Übung keine. Doch auch von Hemmungen, ob und wie man blinde Menschen am besten anspricht, berichten manche der Teilnehmenden. "An Bahnhöfen erlebe ich häufig, dass Menschen um blinde Personen entweder einen großen Bogen machen, oder aber sie einfach packen und die Treppe hochzerren", erzählt Stoffregen. Ansprechen ist richtig, aber die Frage, ob und wie man helfen kann, ist immer Voraussetzung. 

Den Gottesdienst mit allen Sinnen erleben

Das gilt auch in den Gemeinden. "Hinkommen, reinkommen, klarkommen, wegkommen" beschreibt Jörg Stoffregen die Leitgedanken, die bei Gemeindeveranstaltungen wichtig sind. "Wenn ich am Eingang zehn Liedzettel in Großdruck auf DIN-A-3 bereitstelle, steckt dahinter die Botschaft, dass auch Menschen, die schlecht sehen, in der Gemeinde gesehen werden und willkommen sind", sagt er. Hilfreich seien auch das Organisieren einer Assistenzperson, eine gute Beleuchtung oder das Ansagen von Liedanfängen anstelle von Liednummern.

Was in den Gemeinden konkret zu beachten ist, das erklären Jörg Stoffregen und sein Team in diesem Video. 

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Auch die Gottesdienste betreffend ermutigt Stoffregen dazu, möglichst mehrere Sinne anzusprechen, etwa durch Gerüche. "Hyazinthen funktionieren gut", weiß Marisa, die neben ihrem Ehrenamt im Kirchengemeinderat hauptberuflich mit demenzerkrankten Menschen arbeitet. Überhaupt kommen Blumen infrage, Orangen oder zur Weihnachtszeit Zimt. Genau wie an Lieder und Musik können sich Menschen mit Demenz auch an Gerüche gut erinnern.

Und darum gehe es. Wer bei Veranstaltungen auf die Bedürfnisse einer kleinen Gruppe eingeht, sagt Stoffregen, erreiche damit auch andere. Von einer "Bewusstseinsbildung" spricht er, zu der er mit der Schulung beitragen möchte. Denn häufig seien es nur kleine Schritte, die nicht nur ein Zeichen setzen, sondern mit denen man auch viel bewirken kann.