Ist die Bibel Gottes Wort? Und wenn ja, wie sieht das aus? In den verschiedenen Teilen dieser kleinen Reihe habe ich sehr unterschiedliche Zugangsweisen zur Bibel vorgestellt. Worauf ich aber noch keine Antwort gegeben habe, das ist die Frage: Wie kann ich heute, als aufgeklärter Mensch in der Zeit von Internet, Naturwissenschaft, Technik diese alten Texte ernst nehmen? Wie können sie für mein Leben relevant werden?
Ich glaube: Eine Antwort auf diese Frage kann nur eine sehr persönliche sein. Darum will ich genau das heute versuchen: Eine ganz persönliche Antwort auf die Frage: Wie hältst du's mit der Bibel? Wohl wissend, dass es viele, sehr viele andere Ansätze gibt.
Historisch-kritisch?
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Bestimmt werden viele jetzt eine Entscheidung für einen der Zugangswege erwarten, die ich in den letzten Wochen vorgestellt habe. Vermutlich für die historisch-kritische Methode. Machen ja die meisten studierten Pfarrer so. Schließlich lernt man das im Studium.
Ja, für mich ist die historisch-kritische Methode eine grundlegende Technik, um einen Text in seinem historischen Zusammenhang zu verstehen. Ganz klar: Da führt für mich kein Weg mehr dahinter zurück. Ich weiß, wann und wo die priesterschriftliche Schöpfungserzählung geschrieben wurde und gegen welche Gedanken und gegen welche Gottesvorstellungen sie sich abgrenzt. Ich weiß, wie wichtig das Wort „Bund“ im Alten Testament ist, und welche Vorstellungen sich damit verbinden. Ich weiß auch, auf welche Überlieferungen sich der Evangelist Lukas stützt, wenn er seine Weihnachtsgeschichte komponiert. (Wenn Sie glauben, dass das liebe Jesulein am 24. Dezember des Jahres 0 von der Jungfrau Maria in einem Stall bei Betlehem geboren wurde, während es draußen fürchterlich schneite, dann sollten Sie eventuell nochmal ein wenig recherchieren.)
Nicht so statisch!
Aber alles dieses Wissen hilft mir nicht im Geringsten weiter, wenn ich nach einer Grundlage für meinen Glauben suche. Denn es ist nur Wissen. Gottes Wort wird die Bibel dadurch nicht. Das wird sie für mich erst, wenn ich sie als solches auch lese. Wenn ich für mich selbst annehme: Im Lesen der Bibel kann Gott zu mir sprechen. Eine Bibel, die im Schrank steht, die ist nicht Gottes Wort, denn Gott ist nichts Statisches. Schon in der Bibel selbst wird er beschrieben als den Menschen zugewandt. Als einer, mit dem man sogar feilschen kann (Lot handelt ihn von 50 auf zehn gute Menschen runter, wegen denen Sodom und Gomorrha verschont werden sollen: 1. Mose 18). Gott stellt sich Mose vor als JHWH. Das sind die hebräischen Konsonanten, die meistens zu „Jahwe“ ergänzt werden (wer sich mit Hebräisch nicht so auskennt, macht schon mal Jehova daraus und bezeichnet sich als „Zeuge“). Und Gott liefert eine Erklärung dazu. Eine, die man im Deutschen nicht wirklich nachmachen kann. Manche übersetzen: „Ich bin, der ich bin“. Näher dran ist meiner Meinung nach: „Ich werde sein, der ich sein werde.“ So habe ich Gott im Studium der Bibel immer wieder erlebt: Nicht als etwas Festgefügtes, immer Gleiches. Nein, als eine Bewegung. Ein Ereignis. Ein Geschehen. Wie sollte sich so ein Gott in Buchstaben pressen lassen? Das ist viel zu eng für ihn. (oder für sie, um nochmal zu betonen, dass es sich sowieso nur um ein Sprachspiel handelt, um etwas Unbeschreibliches in Worte zu fassen).
Gottes Wort ist nicht statisch, genau so wenig wie Gott statisch ist. Es ereignet sich. Dann, wenn ich es lese, und so, wie ich es lese. Wenn ich mit Mitteln der historisch-kritischen Exegese an einen Text herangehe, kann ich Gott finden in den Erlebnissen der Menschen, die die Worte der Bibel aufgeschrieben haben. Ich kann ihn aber auch finden, wenn ich diese Erkenntnisse beiseite lasse und einfach nur die Texte zu mir sprechen lasse. Ich kann ihn finden, wenn ich mit der Methode des „Bibel teilens“ an ein Kapitel der Bibel herangehe, ebenso wie mit Bibliodrama oder den vielen anderen Zugangswegen, die sich im Lauf der Jahrtausende entwickelt haben. Ich kann Gott finden, wenn ich darüber meditiere oder wenn ich den Text schön gestaltet abschreibe. Oder wenn ich einen Psalmtext auf eine Jahrhunderte alte Melodie singe. Gottes Wort ereignet sich.
Die Wahrheit in der Weihnachtsgeschichte
Bleiben wir doch mal bei der oben erwähnten Weihnachtsgeschichte. Die nach Lukas 2. Die historisch-kritische Methode sagt mir: Was Lukas hier aufschrieb, ist kein historischer Bericht, beileibe nicht. Er will „nur“ aussagen: Dieser Jesus, der ist wahrhaftig der, der alle Worte der Propheten erfüllt. Darum die Geburt in Betlehem (Micha 5,1: Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.) Darum die Jungfrauengeburt (Jesaja 7,14: Siehe, eine Jungfrau (oder: junge Frau) ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.). Darum der Stammbaum, der Jesus als Nachkomme Davids und damit als den gesalbten König bezeugt („der Gesalbte“ heißt auf Hebräisch Messias, auf Griechisch Christos). Darum so viele andere Einzelheiten, die alle „nur“ eine Predigt sind. Eine Predigt, die nicht den historischen Jesus darstellen will, sondern die sagen will: Sehr her, das ist der, auf den wir die ganze Zeit gewartet haben! Das ist der, den die Propheten uns verkündet haben! Das ist er, der Messias!
Alles das weiß ich. Und doch sitze ich am Heiligen Abend in der Kirche und es läuft mir ein Schauer den Rücken hinunter, wenn ich die Worte höre: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“ Ich höre die Erzählung von den Hirten, den Ausgestoßenen, die als erste an die Krippe kamen. Und spüre die tiefere Wahrheit in der Geschichte, auch wenn sie nicht historisch korrekt sein mag. Die Wahrheit: Gott kommt zu uns Menschen. Gerade zu denen, die keiner haben will. Damals zu den Hirten. Heute – zu wem?
Gottes Wort geschieht
Ist die Bibel Gottes Wort? So war unsere Ausgangsfrage. Meine Antwort: Nur dann, wenn sie gelesen wird. Nur dann, wenn ich beim Lesen offen bin für das, was passiert. Gottes Wort IST nicht, Gottes Wort geschieht.
Deshalb ist es für mich auch völlig egal, ob nun die damaligen Schreiber der Bibel ihre Texte wörtlich diktiert bekamen oder ob sie lediglich ihre eigenen subjektiven Erfahrungen mit Gott niedergeschrieben haben. Es kommt darauf an, was ich daraus mache – oder besser: Was Gott daraus macht, wenn ich ihn lasse.
Manchmal wird dann auch – oh größte aller theologischen Sünden! – ein völlig aus dem Zusammenhang gerissener Satz ganz für sich allein bedeutend.
So ging es mir einmal, in einem meiner ersten Studiensemester. Ich hatte mir meine Bibel vorgenommen und wollte einfach nur ein wenig lesen. Den Hebräerbrief, warum auch immer. Und weil's so schön schummrig war, hatte ich mir nur eine einzige Kerze angezündet. Dann kam ich zu dem Satz: „Schrecklich ist's, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ (Hebräer 10,31). In diesem Moment musste ich husten – und hustete die Kerze, meine einzige Lichtquelle, aus. Saß plötzlich mit diesem letzten Satz vollkommen im Dunkeln. „Schrecklich ist's, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ Ein Schock, der mich lange beschäftigt hat. Ein Schock, der mich aber auch in meinem Gottesverständnis weiter gebracht hat. Weg vom niedlichen „lieben Gott“, zu einem weiteren, offeneren Verständnis von Gott als lebendig, aber auch so überwältigend größer als alle unsere Gedanken, dass wir vor ihm nicht bestehen können.
Inzwischen bin ich in meiner Theologie hoffentlich noch ein Stück weiter. Aber ich glaube wirklich: In diesem Moment ist mir Gott begegnet. Ganz anders, als ich es erwartet hatte. Heilsam. Horizonte öffnend. Und bei aller Schärfe dieses Satzes: Liebevoll.
Was ist dann noch objektiv?
Wenn wir uns so persönlich der Bibel nähern: Kann es dann überhaupt noch etwas Verbindliches zwischen uns Christen geben? Wird nicht der eine die Bibel so auslegen, die andere völlig anders?
Nun ja: Genau das geschieht doch schon jeden Tag. Für mich ist es auch nicht schlimm, wenn sich unsere Vorstellungen von Gott unterscheiden, wenn wir vielleicht sogar in grundlegenden ethischen und theologischen Fragen zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Die Größe Gottes kann sowieso niemand von uns Menschen völlig erfassen.
Hatte dann auch, um ein extremes Beispiel zu nennen, Heinrich Institoris Recht mit seiner Auslegung des Glaubens? Ja, ich weiß, den kennt heute keiner mehr. Es ist der Verfasser des „Hexenhammers“, einer Art Handbuch zur Hexenverfolgung im Mittelalter. Der Bestseller-Autor seiner Zeit. Er brachte unendliches Leid über viele Menschen und war doch der festen Überzeugung, er tue es „für Gott“. Was kann uns davon abhalten, solche Irrwege zu gehen?
„Was Christum treibet“
Ich glaube, Martin Luther hat da ein gutes Kriterium gefunden. Auch im Blick auf Teile der Bibel, die uns fremd bleiben, wie etwa die jüdischen Speisevorschriften. Er sagte: Das ist Gottes Wort, „was Christum treibet“. Das heißt: Was die frohe Botschaft von Jesus Christus, der für unsere Sünden in den Tod gegangen ist, vorantreibt.
Wenn wir auf der Seite der Liebe, der den Menschen zugewandten Wahrheit und der Vergebung sind: Dann, so glaube ich, haben wir Gottes Wort wenigstens zum Teil verstanden.