Die beste Zeit des Jahres

Geistvoll in die Woche
Die beste Zeit des Jahres
Neue Lehren aus dem Dschungelcamp

Es ist Montag, der 10.2. und das bedeutet: zwei Wochen „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ liegen hinter uns. 

Die Dschungelkönigin steht fest. Es ist: Lilly Becker!

Falls es in der hochverehrten Leser*innenschaft Menschen geben sollte, die weder etwas mit dem Namen Lilly Becker anfangen können (oder fälschlicherweise nur denken, dass sei die Ex von), noch vertraut sind mit den Abläufen der Show: Verzagt nicht - dafür habt ihr ja Google - und mich in meiner Eigenschaft als Dschungelcampbeauftragte der EKD.

Seit 2004 sendet RTL jedes Jahr im Januar zwei Wochen lang täglich das Realityformat „ich bin ein Star, holt mich hier raus“ (in Fachkreisen: #ibes ). Ein dutzend mehr oder weniger prominente Personen leben für diese Zeit in einem Camp in Australien. Sie haben keinen Kontakt zur Außenwelt, müssen sich in Prüfungen mit mehr oder weniger ekligen Tieren befassen, bekommen unter Umständen nur Reis und Bohnen zu essen - und vor allem müssen sie miteinander klar kommen und dabei die Zuschauer*innen unterhalten - mit Humor, Mut, Teamgeist, Meme-tauglichen Szenen und zu Herzen gehenden Lebensgeschichten. Dafür bekommen sie teils hohe Gagen, lukrative Werbeverträge und als Preisgeld 5mal mehr als eine Goldmedaillengewinnerin bei Olympia.

Mein Tag und der vieler Ibes-Ultras sieht in diesen zwei Wochen wie folgt aus: jeden Abend schaue ich Dschungelcamp (dankenswerterweise hat sich dieses Jahr die Produktion auf ihre älter werdende Zielgruppe eingestellt: Die Sendung beginnt um 20.15 Uhr und nicht wie früher um 22.15 Uhr), danach „Die Stunde danach“ (in der das Geschehene nachbesprochen wird) und morgens beim Aufstehen höre ich einen der zahlreichen begleitenden Podcasts. In meinem Fall ist das natürlich der Piepsein-Podcast mit Johnny und Sonny, die einfach die liebenswürdigsten und bestinformiertesten Menschen der deutschsprachigen Trashliebhaber*innen-Szene sind. Johnny und Sonny haben außerdem den Instagramaccount @piepseinpodcast , mit dem sie vor Beginn der Show und in jeder Werbepause live gehen, um mit uns, ihrer Fanbase (Fachterminus: mit den „Piepsis“), über die Eindrücke zu sprechen. Während es in den Kommentarspalten anderer Dschungelcamp-Accounts oft ruppig zugeht, ist der Space, den Sonny und Johnny geschaffen haben, geprägt von Freundlichkeit, Awareness und besten Snacktipps.

Sie sehen also, verehrte Leser*innenschaft: mein Leben während der zwei Wochen Dschungelcamp ist ein äußerst geregeltes. Mehrere Stunden am Tag beschäftige ich mich mit einem sehr überschaubaren Ort mit sehr überschaubarem Personal und sehr überschaubaren Themen.

Wobei in der diesjährigen Staffel von van Gogh bis Trump, von Trauerphasen bis Verdauungsproblemen, von den Abgründen männlichen Boomerselbstverständnisses (Jörg!) bis zum erstaunlich intakten politischen Moralkompass jüngerer Realitystars (Sam! Maurice!) thematisch viel geboten war. An manchen Abenden wirkte das Camp wie ein Kommentar zu dem, was draußen stattfand und die Schlagzeilen der seriösen Medien dominierte. Etwa wenn Nina Jörg den Rat gab: „Man muss manchmal bisschen weiter denken als nur an den nächsten Gag.“ - und das einen Tag, nachdem die CDU erstmals mit Stimmen der AfD einen Antrag im Bundestag durchgebracht hatte und mit diesem Dammbruch ihr Versprechen brach gegenüber Wähler*innen und Koalitionspartner*innen innerhalb der demokratischen Mitte. Man wünscht sich, im Konrad-Adenauer-Haus ginge es etwas mehr zu wie im Dschungelcamp, wo es dann doch jedes Mal mindestens eine Kandidat*in gibt, die die Stimme der Vernunft ist, den rücksichtslosen Selbstdarsteller*innen (denen ohne Impulskontrolle) widerspricht und dafür oft von den Zuschauer*innen belohnt wird.

Nun sind also die zwei Wochen zu Ende. Für manche folgen jetzt andere Trash-Formate. Aber keines hat diese den Tag und den Kopf ordnende Kraft wie der Dschungel. Für mich gilt es nun, anderes zu finden, das mich regelmäßig und selbstverständlich herausholt aus den via Social Media und Newstickern unentwegt hereinbrechenden Meldungen, Aufregungen, von v.a. reichen Männern verursachten Katastrophen.

Timothy Snyder schlägt in „Über Tyrannei“ das Lesen von Romanen vor, weil das unsere Fähigkeit belebe, „über widersprüchliche Situationen nachzudenken und die Absichten von anderen zu beurteilen.“ Eine Freundin erinnert mich im Gespräch daran, wie gut es tut, kreativ zu sein: zu schreiben, zu singen, zu stricken, kleine Collagen aus alten Ausgaben der Vogue zu machen und die zu verschenken.

Wir können Vögel beobachten, Bäumen beim Wachsen zuschauen, beten, atmen, bunte Lidstriche ausprobieren, Bibel lesen, es doch noch mal mit „Sommerhaus der Stars“ versuchen, Topfpflanzen züchten, zum wiederholten mal „Bridgerton“ schauen, uns jemandem anvertrauen.

Und: wir sollten das tun, meine ich, verehrte Leser*innenschaft - denn wir werden in den nächsten Jahren alle gemeinsam viel Kraft brauchen, um die Demokratie, die Freiheit und die Menschenwürde vor ihren Feind*innen von außen und von innen zu schützen.

Und das geht so viel besser, wenn wir ausgeruht, vergnügt und klar sind. Darauf eine Fruchtgummi-Spinne!


Wochenaufgabe:

Mach diese Woche jeden Tag eine Sache, die dir so richtig richtig Spaß macht.

 

P.S.: Pierre Sanoussi-Bliss, 62, schwarz, schwul, Ossi, lakonisch as fuck, wurde Dschungelprinz - er sagte über das Camp: "Wenn man sonst nur hässliche Kommentare liest, Leute, die einen blutig-gepeitscht durch Brandenburg treiben wollen … dann tut das hier einfach gut." 
Nur falls hier irgendjemand denkt, dieses Format sei gesellschaftlich und politisch irrelevant. 
 

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