Sehr unbeholfen kratzt mein Füller über das Heft mit grünem Umschlag und zeichnet die ersten kyrillischen Buchstaben. Ich bin 10 Jahre alt und lerne wie zehntausende andere 10-jährige DDR-Kinder das russische Alphabet schreiben und singen. Als erstes kann ich „Menya zovut Bettina“ sagen und erfahre, dass „Mama“ auch „????“ heißt. Es ist meine erste Fremdsprache und sie entführt mich in eine spannende, neue und unbekannte Welt. Keine fremde Welt. Denn mich begleiten ja schon von klein auf auch russische Märchen und russische Kinderbuch-Helden, Matrjoschkas und der Anblick russischer Soldaten auf den Straßen. Mir wird von einem freundlichen Land erzählt. Meine Lehrerinnen berichten begeistert von ihrem Studium in Russland, ihren Reisen dorthin und von Freunden, die sie dort gefunden haben. Es ist das Land der Revolution. So wird es mir beigebracht. Grund meiner Freiheit. So lerne ich es. Mit zehn Jahren habe ich schon einen Klassenstandpunkt und kenne den Klassenfeind. Ich bin für den Weltfrieden. Noch heute, wenn man mich selbst nachts wecken würde, könnte ich, obwohl ich gar nicht Pionier war, die Friedens-Pionierlieder wie aus der Pistole geschossen singen: „Kleine weiße Friedenstaube…“, „Hell scheint die Sonne und leicht ist unser Schritt…“, „Mit fliegenden Fahnen ziehn wir in den Mai…“, „Über allen strahlt die Sonne…“, „Die Heimat hat sich schön gemacht…“ und „????? ?????? ????? ??????…“ - „Immer lebe die Sonne, immer lebe der Himmel, immer lebe die Mutti und auch ich immerdar!“ - wahlweise auf Deutsch oder Russisch.
Meine Welt wird gut geordnet und erklärt. Es wäre einfach, in ihren Regeln zu leben. Wenn man keine Fragen hat. Ob meine Lehrerin weiß, dass das russische Wort für Sonntag, „???????????/Voskresen’ye“, vom Wort „Auferstehung“ kommt, frage ich sie eines Tages. Damit fängt es an. Falsche Frage. Sie ist nicht amüsiert. Das wäre eine falsche Information, erklärt sie mir. Auferstehung gäbe es außerdem gar nicht. Und ich stehe im Konflikt, wem ich glauben soll: ihr oder meiner Mutter, die Pfarrerin ist und mir das erzählt hat.
Es sind die Kratzstellen der Diktatur, die sich freilegen, wie die Zahlen auf einem Rubbellos, sobald man Fragen stellt und die Dinge selbst durchdringen will. Plötzlich schimmert eine Art Paralleluniversum durch die Alltagsmatrix und irritiert. Viele haben das weg geblinzelt. Ist auch gar nicht auszuhalten in einer Matrixspannung zu leben. Eigentlich alle haben gelernt, sie zu beherrschen. Von außen betrachtet, ist es ein angepasstes Leben. Von innen betrachtet eine Überlebensstrategie. Von außen betrachtet mitlaufende Mitläufer. Von innen betrachtet ein System aus unscheinbaren Zeichen, Signalen, Gesten, Farben, Kleidungsstücken und Metaphern, die nach außen bedeutungslos und nach innen Ausdruck der Freiheit waren.
Ich erinnere mich an Blicke. Viele Blicke. Blicke, mittels derer ich mich mit Gleichgesinnten verständigte und mit den Wimpern nickte. Ich erinnere mich an spontanen Beifall in Theaterstücken, der eigentlich nur einer beiläufigen Metapher galt. Ich lernte vielsagend zwischen Zeilen sprechen. Gedichte zu lesen von Ferne und verschiedenen Häuten und Wahrheiten und von Mut. Bilder zu betrachten mit den Augen einer, die Türen und Welten sieht. Liedtexte mitzusingen, deren Worte eine Sprache für Unsagbares fanden, wie das Lied von den Moorsoldaten. Ich erinnere kleine Alltagsmomente. Momente des Nichtzustimmens, des Umwertens, des dahinter Lesens, der Blicke und stillen Übereinkünfte. Unspektakulär. Fast nicht erzählbar. Mikrobeben. Kratzstellen. Beherrschte Paralleluniversen. Zweitsprache. Nichtausgesprochen. Nicht nennenswert. Im Vergleich zu den mutigen, großen, fast immer folgenreichen Gesten: Aufkleber, Protestbriefe, Friedensgebete, Ausreiseanträge.
Gestern sagte eine Journalistin, es gäbe in Russland keine nennenswerte Opposition.
Da bin ich froh. Gut zu wissen. Das ist ein gutes Zeichen. Denn die nicht nennenswerte Opposition malt Bäume und stellt sich die Vögel darin vor. Sie wirft kaum nennenswerte Blicke und kennt unmerkliche Gesten. Sie ist ein stiller Mut. Sie ist in den Gefängnissen. In den Herzen der Mütter und Väter, die ihre Kinder aufwachsen sehen. In den Köpfen der jungen Leute.
Ich glaube an so eine nicht nennenswerte Opposition. So klein sie sein mag. Es nicht zu tun, käme mir einem Verrat gleich. Denn ganz sicher gibt es dort, neben vielen, die es weg blinzeln, welche, die hoffen. Die in Parallelwelten sprechen und gehen und nur Gedichte sind ihre Freiheit und Lieder und Bilder mit Türen vielleicht.
An sie zu glauben - trotz schwärzester Prognosen und einem menschenfeindlichen Diktator - lasse ich mir nicht nehmen und lasse mir keine pauschalen Feindbilder mehr vorschreiben. Ich sehe auf dem Bildschirm Menschen in Moskau (zwischen den Wächtern) Blumen auf einen Stein legen - voll Mut. Sie verursachen Kratzspuren auf dem Bild der Diktatur.
Und ich glaube an die Verrückbarkeit von Steinen an einem Morgen.
Vielleicht an einem Sonntag.