(Nicht) überrascht

(Nicht) überrascht
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten und natürlich in diesen Tagen: Die Forumstudie lesen: zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche.
Triggerwarnung deshalb: in diesem Text geht es um Gewalt, um Machtmissbrauch und um Ohnmacht.

Während ich diesen Text schreibe, ist es zwei Wochen her, dass die Forumstudie in einer Pressekonferenz  vorgestellt und an die Ratsvorsitzende der EKD übergeben wurde.

Seither lese ich in dem über 800 Seiten langen Text. Und ich wundere mich über so manche Reaktionen meiner Geschwister im Glauben und im Amt (Erschütterungserschütterungserschütterung, Wirwurdenüberrascht, Wirhabenaberdochallesrichtig, Ichhättejaniegedacht, Betroffenheitsfolklore).

Ich bin nämlich nicht überrascht. Lesend trete ich hinein in eine Welt, die mir mehr als vertraut ist. Ich weiß, wie die Freizeitübernachtungslager riechen und aussehen, in denen verheiratete Pastoren Anfang 40 sich nachts zu 15jährigen Teamerinnen legen (Seite 258). Ich kenne die „offenen“ Pfarrhäuser, ihre großen Gärten, die Schuppen. Die dienstlichen Telefonanrufe, die die Pfarrerskinder entgegen nehmen (Seite 515).  Die Fahrten nach Taizé. Oder zum Pfingstjugendtreffen - je nach theologischer Vorliebe. Ich kenne die strengen Diakonissen. Die verleugnete, dämonisierte und dann doch ausgelebte Sexualität. Und das Gegenteil. Ich kenne das Gebot zu schweigen. Sich der Sache, der Kirche, dem Vater, dem Pastor, dem Superintendenten, der Diakonisse, dem Herrn Jesus unterzuordnen. Niemanden jemals bloß zu stellen. Vor allem keinen Mann bloß zu stellen. Ich kenne das pastorale Mhhmhhhm. Das endlose „Spiegeln nach Rogers“. Ich habe es selber im Vikariat genauso gelernt: nicht werten, immer einfach nur wiederholen, was die andere sagt, nicht eingreifen, nichts tun. Seelsorge!!! Oder eben: Wegmoderieren.

Ich lese weiter. Seite 493. Ein Betroffener stellt Recherchen zu seinem Täter an. Der ist immer noch pädagogisch tätig. Der Betroffene meldet das Erlebte und den Beschuldigten bei seinem Superintendenten. Zwei Monate später (!) bekommt er folgende Antwort: „…mit Betroffenheit habe ich Ihre beiden Schreiben vom (Datum) zur Kenntnis genommen. Sie erheben Vorwürfe wegen jahrelanger sexueller Belästigung und sexuellen Missbrauchs gegen Herrn (Name Beschuldigter). Eine Bewertung Ihrer Vorwürfe ist mir nicht möglich und ich bin dafür auch nicht zuständig, zumal Sie in den mir zugesandten Schreiben auf nähere Angaben verzichten. Soweit nicht bereits erfolgt, müssten Sie gegebenenfalls dafür rechtliche Schritte einleiten. Ich werde Herrn (Name Beschuldigter) Ihre Schreiben zur Kenntnis geben, um ihm die Möglichkeit der Auseinandersetzung damit zu geben.“

Ich arbeite seit 2004 für die evangelische Kirche. Ich hatte bisher insgesamt sieben direkte Vorgesetzte (sechs Männer, eine Frau). Dreien davon würde ich ein derartiges Schreiben wohl zutrauen.

Weiter. Seite 594f. Neben Personalakten und Disziplinarakten gibt es in den meisten Landeskirchen weitere für Aufdeckung und Aufarbeitung entscheidende Dokumente, die in der Studie als „sonstige einschlägige Unterlagen“ kategorisiert werden. Diese werden teilweise separat aufbewahrt - Zitat: „z.B. in der Schublade des Bischofs“.

Ich weiß, dass, während ich das lese, der Rat der EKD und die Kirchenkonferenz (also alle leitenden Geistlichen und alle leitenden Jurist*innen der 20 Landeskirchen) tagen und um diesen Text ringen, der zur Forumstudie Stellung nimmt. Ich gehe davon aus, dass auch der Bischof mit der Schublade dabei ist. Wer ist es? Ist es womöglich mein eigener Bischof? Oder einer, mit dem ich schon mal ein Bier getrunken habe? Was sagt der Bischof mit der Schublade in Interviews? Ist er jetzt auch betroffen / überrascht / erschüttert? Weist er auf die hervorragenden Schutzkonzepte seiner Landeskirche hin? Lässt er Mails verschicken, die mit Bibelversen enden und davor subtil oder offen suggerieren, die Forschenden hätten unseriös gearbeitet?

Nein, ich bin nicht überrascht. Eher: desillusioniert. Bestätigt in dem, was ich geahnt habe, aber vielleicht nicht verallgemeinern wollte. Pfarrherrlichkeit, Verantwortungsdiffusion, sich selbst und die eigene Institution für moralisch überlegen halten, Historisierung, Konfliktunfähigkeit, Führungsschwäche, Zwang zur Harmonisierung (Seite 37), Unsichtbarmachung bestehender Machtverhältnisse (Seite 27, die evangelische Variante des von der Journalistin Christiane Florin so treffend beschriebenen Demutsgigantismus) und eine Theologie, die auf Täter fokussiert, Schuld und Vergebung automatisch koppelt und Reue einfach überspringt (Seite 804) - all das kenne ich in Variation aus eigener Anschauung. Wie womöglich jede Person, die haupt- oder ehrenamtlich in der evangelischen Kirche arbeitet und sich selber nicht „in die Dasch nei lügt“, wie es auf schwäbisch heißt. Wer es tatsächlich nicht kennt, sollte wahrscheinlich noch mal seine*ihre Privilegien checken und das Konzept „Happyland“, das Tupoka Ogette beschreibt, auf „Happy Church“ übertragen (einfach googeln!).

Wie geht es jetzt weiter?

Das Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt wird Maßnahmen entwickeln. Zur Aufdeckung, Aufarbeitung, Verantwortungsübernahme. Zu einheitlichen angemessen hohen Entschädigungszahlungen. Zu flächendeckenden Melde- und Schutzkonzepten. Die Landeskirchen, ihre leitenden Geistlichen und leitenden Jurist*innen, ihre Synoden und Kreissynoden, ihre Aus- und Fortbildungsstätten werden angehalten werden, diese umzusetzen.

Damit das auch wirklich geschieht, werden wir, die wir eine bessere, sicherere, machtsensiblere Kirche mit weniger Gewalt wollen, wachsam sein müssen. Informiert. Vernetzt. Wir werden die Begleitung der freien, unabhängigen Presse brauchen. Die Justiz. Wenn wir wollen, dass die Betroffenen von sexualisierter Gewalt zu ihrem Recht kommen, wenn wir wollen, dass es Tätern, potentiellen Tätern und Mitwisser*innen in der evangelischen Kirche so schwer und ungemütlich wie möglich gemacht wird - dann werden wir unermüdlich misstrauisch sein müssen gegenüber allen unseren Geschwistern, die uns versprechen, wir seien doch auf einem guten Weg und alle täten ihr Möglichstes.

Und ja - das hat mich dann doch überrascht. Wie wenig ich tatsächlich meiner eigenen Institution und dem Anstand ihrer Protagonist*innen noch vertraue.

Wenn ihr bis hierher gelesen habt: Danke dafür. Das ist nicht selbstverständlich. Und ich kann euch diesen Monat auch zum Schluss nichts irgendwie Erbauliches mitgeben. Aber immerhin wie immer eine…

 

Wochenaufgabe:

Wenn es Dir möglich ist: in der Studie lesen: https://www.forum-studie.de/

Auf Christiane Florin hören: https://www.weiberaufstand.com

weitere Blogs

Heute erscheint der sechste und vorerst letzte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie. Katharina Payk fragt: Wo kommt Polyamorie im Kontext von Kirche und Pfarrgemeinde vor?
Teil einer peruanischen Krippe aus der Sammlung Klaus Lotter, Bad Kissingen. Diese Krippe mit "Lamahalsfiguren" (mit langen Hälsen) stammt aus Peru.
In Bad Kissingen sind am zweiten Advents-Wochenende über 100 Krippen aus aller Welt zu sehen.
Kirchenjahr-evangelisch bietet jetzt zu jedem Sonntag die passende Bach-Kantate per Link. Was wohl Johann Sebastian Bach dazu sagen würde, dass seine Musik Jahrhunderte nach seinem Tod jederzeit auf Abruf im World Wide Web klingen kann?