Warum Christen das Buch Ester lesen sollten

Purimfest am 07.03.2023 im Gemeindehaus der Stuttgarter Synagoge.
epd-bild/Judith Kubitscheck
Purim-Feier in der Stuttgarter Synagoge (Archivbild). Die biblische Grundlage des Festes findet sich im Buch Ester - eine Geschichte, die im Christentum meist antisemitisch gelesen wurde.
Zum jüdischen Purim-Fest
Warum Christen das Buch Ester lesen sollten
Am 14. März 2025 feiern jüdische Gemeinden das Purimfest. Von seinen Ursprüngen erzählt das Buch Ester. Im Christentum wurde es meist durch die antisemitische Brille gelesen, weiß der Alttestamentler Helge Bezold. Grund genug, sich heute verstärkt mit dem Text auseinanderzusetzen, sagt er.

Ausgelassenes Feiern, Verkleiden, vertauschte Rollen – das teilt die christliche Karnevalstradition mit dem Purimfest. Wahrscheinlich haben sich die beiden in zeitlicher Nähe stattfindenden Feste im Lauf der Zeit immer wieder gegenseitig beeinflusst. Der biblische Bezugspunkt des Purimfestes ist aber einige Jahrhunderte älter als der Karneval.

Von Purim erzählt das Buch Ester. Darin steht die märchenhafte Geschichte darüber, wie es Ester und ihrem Pflegevater Mordechai gelingt, sich am persischen Hof für das Überleben des jüdischen Volkes einzusetzen. Das Buch ist das vermutlich älteste narrative Zeugnis von Judenhass, von einem staatlichen Plan zum Genozid und von der Gewalt, die nötig ist, um diesen abzuwenden.

Außerdem handelt es von toxischer Männlichkeit, einem autokratischen Staatswesen, von einer Flut von Erlassen des Herrschers, Sexsklavinnen und Alkoholismus. Von Trumps Vorliebe für Dekrete bis zum erstarkenden Antisemitismus in Deutschland – kaum eine biblische Erzählung scheint so anschlussfähig an unsere Gegenwart wie das Esterbuch.

Jüdinnen und Juden stellen sich jedes Jahr zu Purim der Herausforderung, das Esterbuch einmal ganz zu lesen. Sie erinnern sich daran, dass die Existenz jüdischen Lebens nie eine Selbstverständlichkeit war. In christlichen Kreisen scheint das Buch bedauerlicherweise in Vergessenheit geraten zu sein. Und obwohl es thematisch gut passen würde, gibt es keine Karnevalsgottesdienste mit Ester-Lesung oder gar eine Predigt dazu.

Völlig verdrehte Umdeutung

Warum ist das eigentlich so? Andere Figuren der hebräischen Bibel – man denke an Abraham, Mose oder Jona – sind ja durchaus auch in Kindergottesdiensten, Bibelarbeiten oder im Sonntagsgottesdienst anzutreffen. Könnte das christliche Ester-Schweigen damit zusammenhängen, dass in keinem anderen biblischen Buch die Begriffe "Jude" und "jüdisch" so häufig vorkommen, was es einer christlichen Leserschaft erschweren könnte, sich mit den Figuren zu identifizieren? Oder scheint hier ein historischer Reflex angesichts der christlichen Schuldgeschichte im Zusammenhang mit Antisemitismus und dem Holocaust durch?

In der christlichen Auslegungsgeschichte dominieren jedenfalls entweder vereinnahmende oder abwertende Lesarten: So sahen manche Kirchenväter Ester zwar als Vorbild im Glauben und als Symbol für die christliche Kirche. Die vom persischen König, einem Vorbild des Königs Christus, verstoßene Königin Vaschti aber verstanden sie als Repräsentantin der angeblich von Gott verworfene Synagoge. Der Judenfeind Haman wurde schließlich als Archetyp des Christenverfolgers gesehen. Diese Vereinnahmung und völlig verdrehte Umdeutung der Erzählung, die die verfolgten Juden einfach gegen Christen ersetzt, wirkt aus heutiger Sicht unerträglich.

Neue Auslegung wichtiger denn je

Ähnliches gilt für Martin Luthers Antijudaismus, der sich auch auf das Esterbuch bezog. Der Reformator verurteilte das Buch als besonders jüdisch und warf den Juden seiner Zeit vor, das Buch wegen seiner zugeschriebenen Rachsucht und Gewalthaftigkeit so gerne zu lesen. Diese Tendenz, das Esterbuch theologisch abzuwerten hielt sich bis in das 20. Jahrhundert. Sie reicht von der antisemitischen Polemik aus der Zeit des Nationalsozialismus – Hitler selbst soll sich einst als neuer Haman bezeichnet haben –  bis hinein in die christliche Exegese der letzten Jahrzehnte.

Selbst der später zum Judentum konvertierte Alttestamentler Georg Fohrer verwarf das Buch und erkannte darin allenfalls die Anklage an das Judentum, sich von Rachegelüsten zu distanzieren. Fohrers "Einleitung in das Alte Testament" galt für Generationen von Pfarrerinnen und Pfarrern als ein Standardwerk und steht bis heute in fast jeder universitären Bibliothek.

Das allein wäre Grund genug, sich christlicherseits wieder verstärkt mit dem Esterbuch und der bisweilen beschämenden Auslegungsgeschichte, ja der eigenen Rolle als Haman zu beschäftigen. In Zeiten eines wieder wachsenden Antisemitismus ist eine christliche Ester-Auslegung wichtiger denn je.

Verbundenheit entdecken

Das Esterbuch erinnert Christinnen und Christen daran, dass das Erkennen und die Bekämpfung von Antisemitismus fester, ja kanonischer Bestandteil christlicher Lebensführung ist. Statt Vereinnahmung oder Abwertung ist es Zeit für eine Ester-Lektüre in empathischer Verbundenheit mit den Erzählfiguren und den jüdischen Leserinnen und Lesern heute.

Jesus von Nazareth war Jude, vermutlich hat er sogar selbst das Purimfest gefeiert. Wahrscheinlich hat er über den betrunkenen Perserkönig und seine vermeintliche Macht gelacht, sich über Hamans Judenfeindschaft erschrocken, mit Ester und Mordechai mitgefiebert und sich Zeit seines Lebens gefragt, wann Juden wirklich einmal "Ruhe vor ihren Feinden" (Est 9,16) erleben werden.

Holen Sie doch heute zum jüdischen Purimfest einmal Ihre Bibel aus dem Schrank. Lesen Sie das Buch Esther – in Verbundenheit mit Jüdinnen und Juden, im Bewusstsein für die besondere christliche Verantwortung und in der Hoffnung darauf, dass die am Ende der Estererzählung und an Purim jährlich gefeierte Ruhe vor den Feinden eines Tages Wirklichkeit wird. Purim Sameach!