Anstößig ins Neue Jahr?

Eine Rezension zur deutschen Übersetzung des Buches "Anstößige Theologie"
Anstößig ins Neue Jahr?
12 Bücher in 12 Monaten? Wer sich eine solche Lese-Challenge für das Jahr 2025 vorgenommen hat, findet hier noch einen Tipp, der auf der Bücherliste nicht fehlen darf!

Mit dem Namen Marcella Althaus-Reid verknüpft sich eine Art und Weise Theologie zu betreiben, die die Lesenden irritiert, verunsichert, aufwühlt und am Ende ein Stück befreit zurücklässt. Zurecht bekommt diese ungewöhnliche und unanständige Denkerin auch im deutschsprachigen Raum immer mehr Aufmerksamkeit. So wurde nun ihr Erstlingswerk "Anstößige Theologie. Kritik theologischer Perversionen in Sex, Gender und Politik" nun endlich von Daniel Stosiek ins Deutsche übertragen und erschließt somit hoffentlich eine Reihe neuer Leser*innen.

Althaus-Reid wurde 1952 in Rosario/Argentinien geboren. Sie studierte in Buenos Aires am etablierten Instituto Superior Evangelico de Estudios Teologicos (ISEDET). Sie war zudem nach Paulo Freire ausgebildete Befreiungspädagogin und arbeitet in verschiedenen armutsbetroffenen Quartieren in Buenos Aires. Eine Arbeit die sie später nach Schottland führen würde, wo sie auch ihre akademische Arbeit fortsetze. 1993 verteidigte sie ihre Dissertation an der St. Andrews University. Ihr 2000 erschienener großer Wurf "Indecent Theology" bzw. "Anstößige Theologie" ist ein Meilenstein innerhalb befreiungstheologischer und queertheologischer Diskurse. Althaus-Reid vermag es in ihrem unnachahmlichen Stil – der sowohl spielerisch-poetisch als auch messerscharf-denkerisch ist – ein umfassendes Dekonstruktionsprogramm sogn. anständiger Theologien vorzunehmen. Methodisch zeichnet sie sich durch einen multidisziplinäreren Zugriff aus, der es vermag, poststrukturelle Theorien (wie queere und postkoloniale Kritik) mit materialistischen Ansätzen und systematischer Theologie zu verknüpfen. Eine befreite lebensnahe Theologie – so könnte man zusammenfassen – entsteht eben durch eine befreite Körperpraxis am Ort derjenigen die durch hegemoniale Strukturen in Gesellschaft und Theologie an den Rand gedrängt wurden. Althaus-Reid rechnet konsequent mit den impliziten und expliziten Normierungs- und Exklusionsprozessen abstrakter Theologien ab und unternimmt ihre eigene theologischen Körpererkundungen mit/an/unter den Geschichten, die sonst systemisch verunsichtbart werden.

Indecent Theology – Anstößige Theologie 

Das Werk gliedert sich neben einer Einführung in fünf Hauptkapitel. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sind die Frauen, die ohne Unterwäsche ihrer Beschäftigung nachgehen, insbesondere die Zitronenverkäuferinnen in den Straßen von Buenos Aires, in die Althaus-Reid ihre Leser*innenschaft virtuell mitnimmt. In diesen Lebensgeschichten resoniert das Netz hegemonialer Macht in der argentinischen Gesellschaft; es treffen sich patriarchale, sexuell repressive und ökonomisch ausbeutende Strukturen in den Lebensumständen dieser Frauen. Von hier aus vermag Althaus-Reid die Konstruktion und Destruktion der "großen Narrative" Lateinamerikas kritisch nachzuzeichnen und zeigt, welchen Ort die Theologie und Frömmigkeit im Kolonialgeflecht der Conquista erhielt. Grundständig übt sie zudem Kritik an den Theologien, die ihr selbst nah stehen – an der Befreiungstheologie und an der feministischen Theologie. Erstere kritisiert sie für ihre repressive Sexualmoral, die die exkludierenden Strukturen reproduziert. Zweiterer spiegelt Althaus-Reid die blinden Flecken, die sie als privilegierte Europäer*innen mitführen. Ihr Anliegen ist eine kritische Fortschreibung einer feministischen Befreiungstheologie, einer indecent oder anstößigen Theologie. 

In Kapitel zwei konkretisiert sie ihre theologischen Grundlegungen nun am Beispiel der Figur Maria und der in lateinamerikanischen Marienfrömmigkeit. Eine kritische Mariologie ist der erste Anwendungsfall ihrer anstößigen Theologie. Auch hier vermag sie den Konnex zwischen Marienanbetung, patriarchaler und sexistischer Körperkonstruktionen und theologischen Normierungsvorgängen zu entblößen und so die eigentümlich konstruierte Jungfrau Maria zu queeren

"One can easily argue that the Virgen Mary is the strangest thing in Christianity and scarcely needs anybody to Queer her, but Queer is not oddity. Queer is precisely the opposite: it is the very essence of a denied reality that we are talking about here when we speak of 'Queering' or Indecenting as a process of coming back to authentic, everyday life experience described as odd by ideology – and mythology – makers alike. Indecenting brings back the sense of reality (…)." (Althaus-Reid, Indecent Theology 2000, 71)

"Daraus kann leicht gefordert werden, dass die Jungfrau Maria das befremdlichste Ding im Christentum sei und dass es kaum not tue, dass jemand sie queer macht; aber Queer bedeutet nicht Absonderlichkeit. Es ist genau das Gegenteil: wir beziehen uns hier auf dasselbe Wesen einer negierten Wirklichkeit, wenn wir von 'queer machen' oder 'indezentisieren' reden, wobei es sich um einen Prozess der Rückkehr zu den authetischen alltäglichen Erfahrungen handelt, welche von den Erzeugern von Ideologie und Mythologie als sonderbar hingestellt werden. "Indezentisierung" bringt einen Wirklichkeitssinn zurück (…)" (Althaus-Reid, Anstössige Theologie [übersetzte von Daniel Stosiek] 2023, 86)

Althaus-Reid macht diese theologischen Per/versionen (ein von ihr eingeführtes Wortspiel aus Pervers und der lateinischen Wurzel pervertere "falsch abbiegen") in Kapitel drei und vier nun auch für andere theologische Kernthemen fruchtbar. Dabei dekonstruiert sie stets die heteronormativen Implikationen und Sehnsüchte innerhalb der theologischen Theoriebildung einerseits und rekonfiguriert diese andererseits in anstößiger Weise mit Blick auf die im und vom Christentum marginalisierten Personengruppen. Das Gottesbild und Christusbild stehen im Fokus dieser Kapitel.

Kapitel fünf legt sodann den Finger in die offene Seitenwunde der Theologie am Schnittpunkt von hegemonialen Grundannahmen und neoliberaler Ökonomie eines internationalen Kapitalismus. Althaus-Reid vermag es an dieser Stelle ihren Ansatz queerer Theologie mit marxistischer Theoriebildung und materialistischer Analyse zu verbinden. Oder wie es Linn Marie Tonstad in dem sprechenden Kapitel „Money, Sex, and God. Althaus_Reid’s Queer Theology” passend zusammenfasst: "Althaus-Reid’s theology is thoroughly materialist, both in assumptions and content." (Tonstad, Queer Theology 2018, 78).

In deutscher Übersetzung

Daniel Stosiek hat sich nun der anspruchsvollen und ehrenwerten Aufgabe gewidmet dieses grundlegende Werk innerhalb queerer Theologiegeschichte für die deutschsprachigen Raum zugänglich zu machen. Stosiek selbst ist Theologe, war in diversen Kontexten Lateinamerika tätig und hat sich bereits mehrfach durch Übersetzungen anderer lateinamerikanische Werke verdient gemacht. So überrascht es nicht, dass er seiner deutschen Übersetzung sowohl die 2000 erschiene englischsprachige Ausgabe als auch spanischsprachige Ausgabe (2005) zu Grunde legt.

Althaus-Reid zu lesen ist anspruchsvoll, gerade ihr Frühwerk. Sie selbst ist dabei sich im akademischen Diskurs zu etablieren, den sie gleichzeitig in seinem nach Kapitallogiken funktionierenden System kritisiert. Zudem ist es ein ambitioniertes Unterfangen Althaus-Reids poetisch-spielerischer wie denkerisch vorrausetzungsreicher Stil in eine andere Sprache zu übertragen und wird nie ganz ohne Reibungsverluste möglich sein. Manche Mehrdeutigkeiten und Anspielungen gehen leider im Deutschen verloren.  Die Übersetzung versucht den Satzkonstruktionen so gut es geht treu zu bleiben. Dabei verpasst sie es leider durch einen leser*innenfreundlichen Sprachgebrauch eine Hilfestellung zu dem sowieso schon anspruchsvollen Lesevergnügen zu geben. Im Gegenteil, die im Deutschen häufig sperrigen Satzkonstruktionen erschweren den Lesefluss. Stosiek macht immer wieder in Fußnoten transparent, welche Übersetzung, aus welchen Übersetzungsmöglichkeiten heraus, aus welchen Gründen gewählt wurde. Hier zeigt sich ein hoher Selbstanspruch und eine Redlichkeit in der Übersetzungsleistung. Zudem liefert Stosiek immer wieder erklärende Ergänzungen für Bilder, die im deutschsprachigen Raum kulturell nicht verankert sind. Fragwürdig bleibt für mich, warum etablierte und feststehende englischsprachige Begriffe der queeren und Community ebenfalls übersetzt worden sind. Ein treffendes Beispiel ist die Übersetzung von Coming-Out als "Herauskommen". Auch "Fassaden-Sexualität" [orig. closeted sexuality] erscheint als ein eher unglücklicher Begriff, den man durch das englische Pendant hätte vermeiden können.

Auch der Titel bzw. die Übersetzung des für Althaus-Reid grundlegenden analytischen Wortpaar von decent/indecent ist m.E. eine verpasste Chance. Stosiek führt auf redliche Weise den Bedeutungsumfang der Worte aus und begründet für welche Übersetzung er sich entscheidet (indezent/anstößig/ungehörig). Irritierend ist für mich die Entscheidung für dezent/indezent, da diese Begriffe im Deutschen einen anderen Bedeutungshorizont umfassen als decent/indecent. Man hätte in meinen Augen sowohl den Bedeutungsumfang als auch das Wortpaar deutlich besser mit der Übersetzung anständig/unanständig einfangen können. Zudem wäre so auch Althaus-Reid Verbalbildung indecenting als ver-unanstänigen/Ver-unanständigung entsprechend übersetzbar gewesen. Diese – wie ich finde bisher gelungenste Übersetzung – stammt von Andreas Krebs (Krebs 2023, 76f) und hätte die Leseerfahrung von „Anstößige Theologie“ deutlich aufgewertet. 

Ich bin froh, dass dieses wegweisende Werk nun auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht wurde und hoffe, dass für die kommenden Übersetzungen mit Blick auf Lesefreundlichkeit und Umgang mit etablierten Begriffen innerhalb der queeren Community nachgeschärft werden wird. Die Lektüre von Anstößige Theologie kann ich nur jeder Person ans Herz legen, sie sich einmal den Spiegel vorhalten lassen möchte über (unbewusste) normative Implikationen innerhalb des eigenen Theologietreibens mit Blick auf sex, gender und Sexualität. Ich bin mir sicher Althaus-Reid hält nach wie vor und auch für die deutschsprachige Leser*innenschaft einige Aha (oder Oha)-Momente bereit.

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