Jenseits der unsichtbaren Rolltreppe

Getty Images/iStockphoto/Vershinin
Themenreihe Polyamorie
Jenseits der unsichtbaren Rolltreppe
Welche sozialen Erwartungen und Normierungen gibt es rund um das Thema Beziehungen? Und was passiert, wenn Menschen Beziehungen bewusst und verantwortlich gestalten? Dieser Blog möchte einführen in ein klassisches Konzept der Poly-Community und dabei anregen, den Blick für ein Mehr zu weiten.

Heute erscheint der vierte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie**. Nach einer grundsätzlichen Einführung in das Thema, Interviews und einer theologisch-ethischen Betrachtung, folgt heute ein Blick in Selbstdeutung und Konzepte aus der Community. Die O-Töne wurden dabei im englischen Original gelassen. Eine Übersetzung finden Sie am Schluss.

 

Kennen Sie "Love is blind"? Es ist eine ziemlich erfolgreiche heterosexuelle Dating-Show auf Netflix. 30 heiratswillige Kandidat:innen bekommen für zehn Tage die Möglichkeit sich in sogenannten pods (das sind kleine intime Zimmer in gemütlicher Atmosphäre) kennenzulernen. Der Clue: Die Kandidat:innen können sich nicht sehen. Sie sind durch eine Wand getrennt und haben nur ihre Stimme zur Verfügung, um tiefere Verbindungen aufzubauen. Es ist quasi das Gegenkonzept zu bildbasierten und schnelllebigen Dating-Apps wie Tinder. Nicht der erste visuelle Eindruck ist das Entscheidende, sondern die Connection, die durch die Gespräche entsteht. Durch das Setting des Herausgenommen-Seins aus dem normalen Umfeld und das Abgeschnitten-Sein von der digitalen Welt (Handys werden vorher abgegeben) geht es überraschend schnell, überraschend tief im Zwischenmenschlichen. Am Ende der zehn Tage blind dating müssen sich die Kandidat:innen dann entscheiden: Verloben sie sich oder ist das Experiment hier für sie zu Ende. Dann kommt der erste große Moment. Die Verlobten treffen aufeinander und dürfen dann eine Woche Pärchen-Urlaub im idyllischem Setting machen und sich nun live und in Farbe kennen lernen.

Diesem Liebesurlaub folgen drei Wochen Reality Check. Das Pärchen zieht zusammen, bekommt die Handys und Devices zurück und wird aus der Liebesblase zurück ins Leben geholt. Sie lernen die Familien und Freund:innen kennen und teilen Alltag miteinander. Am Ende der drei Wochen steht dann der große Tag an, die Hochzeit. Am Altar wird final entschieden: Heiraten oder Trennung. Es ist Beziehungsaufbau – vom Kennenlernen bis zur Hochzeit – in ein komprimiertes sechs-Wochen-Format gepresst. Das Setting ist vielleicht etwas verrückt. Aber nicht, weil der Weg so befremdlich ist, sondern weil die Zeit so gerafft ist. Es geht alles ziemlich schnell. Hinter diesem Format steht tatsächlich ein recht konventionelles und traditionelles Bild, dass sich in unserer kulturellen DNA transportiert. 

In der Poly–Community gibt es ein geflügeltes Wort für diese Art des Beziehungsaufbaus: Die Beziehungsrolltreppe bzw. der relationship escalator. "Kurz gesagt, sieht die traditionelle Beziehungsrolltreppe so aus: Zwei (und nur zwei) Menschen entwickeln sich von der anfänglichen Anziehung und dem Dating über eine sexuelle und romantische Beziehung und Exklusivität bis hin zur Annahme einer gemeinsamen Identität als Paar, dem Zusammenziehen und der Zusammenführung ihrer Leben - bis hin zu Ehe und Kindern, bis der Tod euch scheidet" (Gaharn 2017:3). Natürlich ist diese unsichtbare Beziehungsrolltreppe ein bewegliches Konzept und wandelt sich mit der Gesellschaft. Scheidung, bewusst kinderfreies Leben oder unverheiratet zusammenleben sind keine Seltenheit mehr. Und trotzdem, es gibt diese Art sozialer Erwartungen für intime Beziehungen heute nach wie vor. Single-Sein sehen wir gesellschaftlich als eine Art Übergangsstatus an, der begleitet wird vom Daten und ein mustergültiges Voranschreiten in ein Paar-Sein, samt der entsprechenden Meilensteine. Der ehemalige Late-Night-Talk-Show-Host Trevor Noah fasst dies gut zusammen, wenn er sagt: "Ich bin Single. (...). Darin bin ich erfolgreich, und das ist auch gut so. Das Problem ist nun, dass ich deswegen ein Verlierer bin, oder? Die Gesellschaft hat mich als Verlierer eingestuft, ob ich das will oder auch nicht. Denn wenn man nicht verheiratet ist oder nicht verheiratet war - das ist der springende Punkt – (...) Wenn man nicht verheiratet war, gibt es diese seltsamen Dinge, die die Leute mit einem tun. Sie behandeln dich entweder so, als ob du keine ernsthafte Person im Leben wärst (...). Und das andere (...) ist, dass man ein bisschen ausgegrenzt wird, weil sich so viele Dinge in der Gesellschaft um die Plus Ones drehen. (...)" Daher auch das Bild einer Rolltreppe, die einen ganz mühelos nach oben trägt, quasi das unsichtbar wirkende kulturelle Skript. Und wer nicht auf der Treppe steht, wird von oben herab betrachtet. 

Das Konzept der Beziehungsrolltreppe stammt von Amy Gahran. Sie hat 2013 bis 2014 eine breit angelegte online Umfrage erstellt, um zu schauen, wie denn die Wirklichkeit gelebter Beziehungen aussieht. Mehr als 1.500 Personen nahmen an dieser Umfrage teil und lieferten das Material für das 2017 erschienene Werk "Stepping off the Relationship Escalator. Uncommon Love and Life". Ein Buch, das ich gerne jeder Person, die in Gemeinden arbeitet und wirkt, ans Herz legen würde. Denn es führt ganz unaufgeregt ein in die bunte Welt der Beziehungen jenseits der klassischen monogamen Zweier-Beziehung und Ehe. Dabei thematisiert es feinfühlig die Stigmatisierungserfahrungen, die damit einhergehen. Das wunderbare an diesem Werk ist, dass Beziehungsformen wie konsensuelle nicht-Monogamie, Polyamorie oder unkonventionelle Formen monogamer Partnerschaftlichkeit nicht nur abstrakt erkundet werden oder im Sinne eines Ratgebers begleitet werden. Sondern hier wird mit O-Tönen der Umfrage in die Vielfalt der Möglichkeiten – bewusst und selbstbestimmt (Liebes-)Beziehungen zu gestalten – eingeführt. Was es nicht alles gibt! Das befreiende an der Leseerfahrung ist, dass das Unsichtbare auf einmal sichtbar wird. Das ist auch Gahrans Ziel, wenn sie vom stepping-off, vom Heruntersteigen der Rolltreppe spricht. Sie kann den traditionellen Weg von Dating bis Ehe dabei durchaus würdigen und bespricht ganz offen, welche Sicherheitsgefühle mit dem couple-privilege (also den Privilegien, die rund um die monogame Zweierbeziehung gesellschaftlich hängen) einhergehen. Ihr Anliegen ist, dass diese Art der Beziehung eine neben vielen gleichberechtigten Formen des in Beziehungs-Seins darstellt (und darstellen soll). Und möchte die Lesenden dazu befähigen, bewusst und selbstbestimmt eigene Beziehungsentscheidungen zu treffen und zwar nach dem, was sich für einen selbst stimmig anfühlt und nicht nach dem, was den sozialen Erwartungen entspricht. Das klingt vielleicht erstmal simpel, aber je weiter man sich einliest, desto klarer werden die gesellschaftlichen Spannungslinien und Ausschlussmechanismen. So einfach ist es dann noch nicht. Hierzu ein paar O-Töne:

"I want to challenge the notion of what a ‛successful’ relationship looks like. I was about to write that we need more models of successful off-the-Escalator relationships, but then I could find no definition for success without succumbing to Escalator-esque values."

Michelle, polyamorous (Gahran 2017:45)

"I’ve never wanted to have children, get married, or cohabit. That made it hard when I was dating under the monogamous model. Most people seem to want to eventually move in or get married."

Melanie, solo poly (Gahran 2017:62)

"Quite simply, it’s a big relief that we do not expect to meet all of each other’s needs. The expectation of perfection, of being everything the other needs, is a huge weight that has been lifted." 

Lidaria, polyamorous (Gahran 2017:62)

"My wife and I are monogamous in the idea that our love is only for each other. Sexually we are nonexclusive. We each have lovers on the side: one-on-one boyfriend-girlfriend relationships, plus swinging in group settings. We still consider ourselves monogamous in the idea that our primary relationship is on such an elevated status above others."

Mr. Wilson, sexually nonmonogamous (Gahran 2017:69)

"Asexuality and polyamory actually go awesomely together." 

Ben, asexual and solo poly (Gahran 2017:79)

"I dislike that I’m often misunderstood as only wanting casual sex. In fact, I’m seeking deeper emotional connections in a poly/open context." 

Angelita, nonmonogamous (Gahran 2017:79)

"People feel that I’m being unfair by having two partners, while they only have one. The moral condemnation is exhausting." 

Catherine, polyamours (Gahran 2017:81)

Probieren Sie es gerne mal selbst aus und wagen Sie den Einblick. Vielleicht geht es Ihnen dann beim Lesen wie mir und Sie stellen fest, wie wenig von dieser Vielfalt sich in unserer Kirche und unseren Gemeinden wiederfinden lässt. Ich behaupte, wir sind als Kirche – mit all unseren Ritualen und Kasualien – ganz schön verwoben mit der unsichtbaren Beziehungsrolltreppe. Taufe – Konfirmation – Hochzeit – Beerdigung markieren die Übergänge eines Lebens auf der Rolltreppe. Und damit stehen wir dem Format "Love is blind" irgendwie viel näher als anderen Beziehungsweisen. Dabei gäbe unsere Gemeindearbeit so viel Segensreiches her. Aber dazu wird in dem kommenden Reihenbeitrag meine Kollegin Katharina Payk mehr erzählen. 

So geht es weiter: 6. November 2024 „Polyamorie in der Gemeindearbeit“ 


Übersetzungen der O-Töne (mit Hilfe von DeepL.com)

Ich möchte die Vorstellung davon in Frage stellen, wie eine „erfolgreiche“ Beziehung aussieht. Ich wollte gerade schreiben, dass wir mehr Modelle für erfolgreiche Beziehungen abseits der Rolltreppe brauchen, aber dann konnte ich keine Definition für Erfolg finden, ohne dabei den Werten der Rolltreppe zu erliegen.“ Michelle, polyamorös

„Ich wollte nie Kinder haben, heiraten oder in einer Partnerschaft zusammenwohnen. Das hat es mir schwer gemacht, als ich nach dem monogamen Modell gedated habe. Die meisten Leute scheinen irgendwann zusammenziehen oder heiraten zu wollen.“ Melanie, Solo-Poly

„Es ist ganz einfach eine große Erleichterung, dass wir nicht erwarten, alle Bedürfnisse des anderen zu erfüllen. Die Erwartung der Perfektion, alles zu sein, was der andere braucht, ist eine große Last, die von mir abgefallen ist." Lidaria, polyamorös

„Meine Frau und ich sind monogam in der Vorstellung, dass unsere Liebe nur dem anderen gilt. Sexuell sind wir nicht exklusiv. Jeder von uns hat nebenher Liebhaber:innen: eine Freund-Freundin-Beziehung und Swinging in der Gruppe. Wir betrachten uns immer noch als monogam, da unsere Hauptbeziehung einen so hohen Status hat, dass sie über anderen steht." Mr. Wilson, sexuell nicht monogam

„Asexualität und Polyamorie passen eigentlich wunderbar zusammen." Ben, asexuell und Solo-Poly

„Ich mag es nicht, dass ich oft missverstanden werde, als wenn ich nur zwanglosen Sex will. In Wirklichkeit suche ich nach tieferen emotionalen Beziehungen in einem poly/offenen Kontext.“ Angelita, nicht monogam

„Die Leute haben das Gefühl, dass ich ungerecht bin, weil ich zwei Partner:innen habe, während sie nur eine:n haben. Die moralische Verurteilung ist ermüdent.“ Catherine, polyamorös


Themenreihe Polyamorie

Die Leerstelle in Theologie und Kirche hinsichtlich der Beschäftigung mit Polyamorie und ethisch gelebter Nicht-Monogamie wollen wir in den kommenden Wochen und Beiträgen mit unserer "Themenreihe Polyamorie" füllen. Dazu haben Katharina Payk, ebenfalls für kreuz & queer schreibend, und ich uns zusammengetan. Katharina Payk ist evangelische Pfarrerin in Wien und als Hochschulseelsorgerin vor allem mit jungen Menschen arbeitend. Sie ist im Vorstand des Vereins "EvanQueer – queere Menschen in der Evangelischen Kirchen Österreichs" sowie Vorsitzende der Gleichstellungskommission der Evangelischen Kirche in Österreich. Ich bin wissenschaftliche:r Mitarbeiter:in an der Universität Hildesheim und forsche und promoviere dort in der Systematischen Theologie zu Queer Theologies. Zudem bin ich  Pfarrperson im Ehrenamt der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und im Team der queersensiblen Seelsorge in Hannover tätig.

weitere Blogs

In Kleve wurden gestohlene sakrale Gegenstände wiedergefunden – durch einen Zufall
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten - diesmal: Bluey
Briefausschnitt
Organspende ist ein medial ein großes Thema. Es gibt zahlreiche Reportagen über Organempfänger und was sie in ihrem neu gewonnenen Leben so alles tun. Über die Hinterbliebenen der Organspender erfährt man deutlich weniger...