Was ist eigentlich Polyamorie (Teil 1)

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Themenreihe POLYAMORIE
Was ist eigentlich Polyamorie (Teil 1)
Polyamore Lebenskonzepte werden gesellschaftlich und medial inzwischen viel beachtet und diskutiert. Menschen leben diese Art der konsensuellen Nicht-Monogamie offen und verbindlich - jedoch schweigen Theologie und Kirche dazu. Die Themenreihe bietet erste Schritte für Perspektiven auf Polyamorie von theologischer Forschung und kirchlicher Praxis aus.

Dies ist der erste Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie*. Weitere Teile bringen Interviews mit zwei Personen aus der (christlichen) Poly-Community und befassen sich mit Polyamorie in Theologie und Kirche


Polyamorie und ethisch gelebte Nicht-Monogamie

Dass wir mehr als eine Person lieben können, ist selbstverständlich, da wir alle Freundschaften, Geschwisterbeziehungen, die Liebe zu zwei Elternteilen oder anderen Verwandten kennen. Sobald es aber darum geht, dass Menschen mit mehr als einer Person eine Liebesbeziehung führen oder intim sind, kommen für viele Zweifel und Fragen auf. Geht das denn überhaupt? Und wenn ja: Wie geht das? 

Viele Menschen leben polyamor oder andere konsensuell vereinbarte nicht-monogame Beziehungskonzepte. Medien berichten darüber; Filme, Serien, Bücher, Podcasts und Co. thematisieren das Lieben und Begehren von mehr als einer Person. Auch rechtlich werden Verantwortungsgemeinschaften, in die etwa Kinder eingebunden sind, diskutiert und inzwischen wenigstens in einigen Ländern bzw. teilweise wahrgenommen und inkludiert. Jedoch gibt es von theologischer Seite wenig bis gar keine Auseinandersetzung mit dem Thema und der Lebenswelt polyamorer Menschen.

Vielmehr stellt Polyamorie eine Leerstelle sowohl in der Theologie als auch in der kirchlichen Praxis dar. Während das Thema gesellschaftlich immer relevanter wird und uns auch in unserer Arbeit als Pfarrpersonen begegnet, hüllen sich Kirche und wissenschaftliche Theologie bisher in Schweigen.

Neue Themenreihe Polyamorie

Diese Leerstelle wollen wir in den kommenden Wochen und Beiträgen mit unserer "Themenreihe Polyamorie" füllen. Dazu haben sich Sonja Thomaier, ebenfalls für kreuz & queer schreibend, und ich zusammengetan. Sonja Thomaier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim und forscht und promoviert dort in der Systematischen Theologie zu Queer Theologies. Sonja ist außerdem Pfarrperson im Ehrenamt der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und ist im Team der Queersensiblen Seelsorge in Hannover tätig. Ich selbst bin evangelische Pfarrerin in Wien und als Hochschulseelsorgerin vor allem mit jungen Menschen arbeitend. Ich bin im Vorstand des Vereins "EvanQueer – queere Menschen in der Evangelischen Kirchen Österreichs" sowie Vorsitzende der Gleichstellungskommission der Evangelischen Kirche in Österreich. 

Neben diesem Einführungsblog "Was ist Polyamorie?" werden wir uns unter anderem auch der Gemeindearbeit, biblischen Perspektiven auf das Thema und der wichtigsten Literatur widmen sowie polyamor lebende Christ:innen in Interviews involvieren und familienethische Betrachtungsweisen berücksichtigen.

Was ist Polyamorie eigentlich?

Der Begriff Polyamorie ist zusammengesetzt aus altgriechisch polys "viel, mehrere" und lateinisch amor "Liebe". Polyamorie bezeichnet eine Form des Liebens und Begehrens, bei der eine Person mehrere Beziehungspersonen hat und alle Beteiligten damit einverstanden sind. In unserer Themenreihe wird auch immer wieder der Begriff konsensuelle Nicht-Monogamie fallen – oder synonym dazu ethische Nicht-Monogamie. Unter diesem allgemeineren Begriff fallen neben Polyamorie auch offene Beziehungen oder Beziehungsanarchie. Während Menschen in offenen Beziehungen rein erotische oder sexuelle Nebenbeziehungen leben, meinen Beziehungsanarchist:innen, man sollte erst gar nicht zwischen Liebes-, Freundschafts- und Sexbeziehungen unterscheiden. 

Wie die einzelnen Konzepte dann aber von den beteiligten Menschen gelebt werden, ist sehr individuell. Etwa kann es auch vorkommen, dass nur eine:r der Partner:innen poly – so die Kurzform – lebt und die:der andere monogam. Für all das gibt es inzwischen beschreibende Begriffe – diese Konstellation jedenfalls wäre eine Mono-Poly-Beziehung. Apropos monogam und polygam: Diese Begriffe beschreiben (eigentlich) verheiratete Menschen. In der Bibel etwa finden wir einige Geschichten über Polygamie (altgriechisch gameo bedeutet heiraten) und zwar als Polygynie – nämlich ein Mann heiratet mehrere Frauen. Diese Form der Vielehe ist eingebunden in patriarchale Strukturen und ist in den meisten Ländern der Welt verboten. Sie hat insofern mit Polyamorie nichts zu tun, da es hier um Versorgung und besonders Machtsicherung als Instrumente einer patriarchalen Gesellschaft geht. 

Polyamor lebende Menschen hingegen legen Wert auf Freiwilligkeit und Konsens. Wenn etwa vier Personen in einem Beziehungsgeflecht sind (man nennt das auch Polykül), dann heißt das noch lange nicht, dass alle vier auch miteinander intim oder freundschaftlich interagieren. Neben einer Beziehung zwischen drei (Triade) oder vier (Quad) Personen gibt es auch das weitaus häufigere Modell der parallelen Polyamorie, in der es zu den Beziehungen der anderen Beziehungsperson(en) keine größeren Berührungspunkte gibt. Andere Varianten sind: dass man mit den Metamouren – das heißt den Partner:innen der Beziehungsperson – ein alltägliches Supportsystem aufbaut und sich auch regelmäßig oder zu besonderen Anlässen wie Geburtstagen etc. trifft. 

Für manche polyamor lebende Menschen ist jede Beziehungsperson auf der gleichen Ebene, für andere wiederum gibt es Haupt- und Nebenbeziehungen, wo die Prioritäten anders gesetzt werden. Außerdem haben manche sogenannte nesting partner, mit denen sie zusammenwohnen, verheiratet sind oder Kinder haben. Der Vielfalt polyamorer Verbindungen sind hier keine Grenzen gesetzt und jede wird einzigartig gelebt.

Nähe, Verbindlichkeiten, Zeitressourcen, Grenzen und Bedürfnisse – diese Dinge werden in der Regel in poly Beziehungen sehr ausführlich besprochen. Oft gibt es agreements, auf die man sich einigt, für manche Beziehungen auch feste Regeln.

Das Gelingen polyamorer Beziehungen – oder ihr Scheitern – hängt nicht unmittelbar mit der Tatsache zu tun, dass es nicht-monogame Beziehungen sind. Oder anders gesagt: Poly Beziehungen zerbrechen oder glücken genauso wie monogame Beziehungen. Menschen in poly Beziehungen berichten aber hingegen oft von einem Mehr an Austausch und Aushandeln über Themen wie Eifersucht, (Verlust-)Angst und sowie auch einem wiederkehrenden Check-In über die Befindlichkeit in der Beziehung und Werte wie Treue, Verbindlichkeit, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit. 

Obwohl polyamor lebende Menschen oft mit hohen ethischen Maßstäben ihre Beziehungen leben, sehen sie sich in der Gesellschaft mit Vorurteilen konfrontiert. Dass es das gar nicht geben könne, zwei oder mehr Menschen zu lieben, hören sie oft, ebenso, dass die Liebe nicht die gleiche Intensität haben könne. Auch die Verwechslung mit Untreue in monogamen Beziehungen ist ein klassischer Fehlschluss über die Polyamorie. Ähnlich wie queere Menschen hören Polys auch den Satz "Das ist nur eine Phase", wenn es um ihre Identität geht, und erleben eine Abwertung ihrer Beziehung(en). 

Nicht-Monogamie als selbstgewähltes Lebenskonzept mit Einvernehmlichkeit gibt es nicht erst seit gestern oder seit sich der Begriff Polyamorie etabliert hat. Berühmte Persönlichkeiten wie Schriftstellerin Virginia Woolf, Maler Gustav Klimt und Regisseurin Judith Malina und lebten etwa offen nicht-monogame Beziehungen. Manche darunter teilten ihre Erfahrungen damit auch in ihren Werken. Dazu gehörten Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, beide Philosoph:innen und Schriftsteller:innen.

Übrigens hat bei Karl Barth, dem berühmten evangelischen Theologen, und seiner Frau Nelly Barth seine zweite Beziehung gewohnt: Charlotte von Kirschbaum. Das Dreieck galt allerdings als nicht unkompliziert. Alle drei sind jedoch zusammen in einem Familiengrab beerdigt. Ob sie sich deshalb heute als Polykül bezeichnet hätten, bleibt offen.

Polyküle sind Gemeinschaften, in denen erwachsene Menschen füreinander und manchmal auch für Kinder Verantwortung übernehmen. Rechtlich können sich polyamore Menschen in ihren Beziehungen nicht (ausreichend) absichern, wenn sie das möchten. Auch in den evangelischen Kirchen gibt es keine Rituale oder Kasualien, die polyamor lebende Menschen inkludieren. Für seelsorgliche Angebote und andere Partizipation in der Gemeinde gibt es bisher keine veröffentlichten Konzepte, an denen sich Pfarrpersonen oder andere Gemeindemitarbeitende orientieren können.

Die nächsten Blogbeiträge von Sonja Thomaier und mir werden sich diesen Lücken stellen und erste Schritte gehen. 

Teil 2 "Polyamorie – eine familienethische Leerstelle" von Sonja Thomaier folgt am 18. September.

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