Gedanken zur Gedenkstunde

Foto zeigt die zerkratzte Scheibe am Mahnmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Berlin. Aufnahme ist vom April 2009
Foto: Rainer Hörmann
Zerkratzte Scheibe am Mahnmal für die in Nazi-Zeit verfolgten Homosexuellen, April 2009.
Queere Geschichte; Gedenkstunde im Bundestag;
Gedanken zur Gedenkstunde
Erstmals wird der Bundestag in seiner Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus die Gruppe der verfolgten Homosexuellen thematisieren. Es ist eines der wichtigsten Ereignisse für die queere Community in diesem Jahr.

Ich war schon lange nicht mehr am Mahnmal für die in der Nazi-Zeit verfolgten Homosexuellen im Berliner Tiergarten, unweit des Brandenburger Tores, gegenüber des riesigen Stelen-Feldes, das an die Ermordung der europäischen Juden erinnert. Durch eine breite Straße räumlich abgetrennt, aber in Sichtweite, liegt der graue schmucklose Betonquader schief da. Am Weg, der darauf zuführt, eine kleine Gedenktafel, leicht zu übersehen. Am Denkmal selbst eine kleine, verglaste Öffnung, durch die man Filmsequenzen sich küssender Männer- und Frauenpaare sehen kann. Vor allem in der ersten Zeit nach der Einweihung des Mahnmals 2008 war die Glasscheibe häufig zerkratzt, Ziel von Vandalismus. Sinnlose Aggression – allerdings nicht aus Wut über die Taten der Nazis, sondern aus Wut und Hass auf Homosexuelle, darauf, dass sich Menschen gleichen Geschlechts küssen.

In diesem Jahr wird in der Bundestag-Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus – die es seit 1996 gibt - erstmals speziell der Menschen gedacht, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Identität im Nationalsozialismus verfolgt wurden. (Auf evangelisch.de finden sich dazu eine Kurzmeldung und ein etwas längerer Beitrag.)

Es war nicht zuletzt der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), der das Gedenken an diese Gruppe bewusst verhindert hat. Zuvor hatte es unter Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) bereits ein thematisches Erinnern an einzelne Opfergruppen gegeben: an Roma und Sinti (2011), an Zwangsarbeiter:innen (2016) und an Behinderte und Euthanasie-Opfer (2017). Schäuble dagegen hatte erklären lassen, er sehe keine Veranlassung und stünde zudem „bei allem Verständnis für Ihr Anliegen - der Aufteilung des Gedenkens in einzelne Opfergruppen allerdings aus grundsätzlichen Erwägungen skeptisch gegenüber“ (zitiert nach Brief, dokumentiert von "Siegessäule", 24.1.2019). In einem späteren Schreiben seines Protokollchefs wurde ziemlich perfide darauf hingewiesen, dass es ja schließlich auch andere Opfergruppen gebe, die keinen Redner stellen durften, etwa die als sogenannte „Asoziale“ Verfolgten (zitiert nach "queer.de", 5.7.2019). Statt zu fragen, warum eigentlich nicht und wie sich das realisieren ließe, wurde den Unterstützer:innen einer Gedenkstunde für die verfolgten Homosexuellen also signalisiert: „Könnt ja jeder kommen!“

Die Zeiten wenden sich. Im Juli letzten Jahres bestätigte die neue Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), dass der Bundestag auf eine langjährige Forderung aus der queeren Community eingehen und der queeren Opfer des Nationalsozialismus gedenken werde. Sie wird auch die Gedenkstunde am 27. Januar 2023 eröffnen.

Im Aktionsplan der Bundesregierung für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, der im November letzten Jahres beschlossen wurde, wird im Kapitel „Teilhabe“ explizit eine Stärkung der Erinnerungskultur als Ziel genannt:

„Die Verfolgung homo- und bisexueller Männer und Frauen, insbesondere in der NS-Zeit, aber auch ihre Kontinuität in der BRD und der DDR, sind nicht ausreichend erforscht. Zur Geschichte von trans- und intergeschlechtlichen Menschen gibt es kaum Forschung. Aber auch die Dokumentation und damit das Sichtbarmachen sowohl der LSBTIQ*-Emanzipationsgeschichte im Allgemeinen als auch der Lebens- und Leidensgeschichten von einzelnen LSBTIQ* ist ein wichtiges politisches Zeichen für die Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und trägt zur Förderung einer Erinnerungskultur bei.“ (Der Aktionsplan ist als PDF via Website Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend abrufbar.)

Auch die christlichen Kirchen können und müssen ihren Beitrag zur Aufarbeitung leisten. Erst 2020 wurde etwa der Berliner Pfarrer Friedrich Klein in einem Gedenkgottesdienst „rehabilitiert“. Von den Nazis aufgrund des § 175 verurteilt, schmiss ihn die evangelische Kirche raus. (Im "kreuz&queer"-Blog habe ich darüber berichtet.)

Es ist ein gutes und ein wichtiges Zeichen, dass es nun am 27. Januar die Gedenkstunde im Bundestag mit dem thematischen Fokus auf die Menschen gibt, die unter der Nazi-Herrschaft wegen ihrer Liebe für das gleiche Geschlecht und/oder ihrer geschlechtlichen Identität verfolgt wurden.

Es ist meine Geschichte, der an diesem Tag gedacht wird. Das liest sich pathetisch, aber es ist die Geschichte, die meinem Leben heute vorausging. Es ist der geschichtliche Hintergrund, in den ich einerseits gestellt werde, einfach weil ich schwul bin, zu dem ich aber auch gehören will. „We Are Family!“, dieser Slogan hat für mich auch eine historische Dimension.

Und es ist wichtig und besonders, wenn Schauspielerin Maren Kroymann und Schauspieler Jannik Schümann während der Gedenkstunde an die Schicksale von Mary Pünjer und Karl Gorath erinnern. Die lesbische Mary Pünjer, das sei als Nachtrag zur oben zitierten Äußerung von Wolfgang Schäubles Protokollchef erwähnt, wurde 1940 als „asozial“ verhaftet und 1942 ermordet!

Die Holocaust-Überlebende Rozette Kats wird sprechen und Klaus Schirdewahn – er als Vertreter jener, für die die Verfolgung aufgrund des §175 nicht mit 1945 endete.

Die Gedenkstunde im Bundestag ist vielleicht das wichtigste Ereignis für die queere Community in diesem Jahr. Sie wird sicher emotional berühren (mich jedenfalls), sie wird traurig sein und sie wird – zwangsläufig – nur unzureichend die menschliche Tragödie(n) erfassen, in Worte, Bilder und Musik fassen können. Sie wird zu Ende gehen und wir werden vom Alltag eingeholt werden und viele, viele Erinnerungen werden wieder verblassen.

Ich war schon lange nicht mehr am Mahnmal für die in der Nazi-Zeit verfolgten Homosexuellen im Berliner Tiergarten. Aber ich bin sicher, es wird ein schöner Frühling, ein warmer Sommer werden – und dann werde ich, zufällig oder absichtlich, daran vorbeispazieren oder auch länger verweilen, vielleicht allein, vielleicht mit Freundinnen und Freunden. Vielleicht werde ich Blumen dabei haben. Und ich werde versuchen, den Ermordeten und Verfolgten, der Menschen vor mir, in deren Geschichte(n) ich stehe, auch dadurch zu gedenken, dass ich bewusst im Heute lebe und liebe.

Einige zusätzliche Infos/Links:

Auf der Internetseite der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die auch die Denkmäler/Gedenkorte für die verfolgten Homosexuellen, Sinti und Roma sowie die Opfer der "Euthanasie"-Morde betreut, finden sich aus Anlass der Bundestag-Gedenkstunde derzeit Erinnerungen an Erwin Keferstein sowie an Rudolf Brazda, der als einer der letzten schwulen Überlebenden der Nazi-Verfolgung gilt.

Inzwischen in der 4. Auflage erhältlich ist der Band "Einsam war ich nie. Schwule unter dem Hakenkreuz 1933-1945" von Lutz van Dijk, der zahlreiche Porträts versammelt (Querverlag).

Die offizielle Pressemitteilung zur Gedenkstunde des Bundestages findet sich hier. Die Gedenkstunde wird am 27. Januar 2023 auch live ab 10 Uhr aus dem Plenarsaal übertragen.

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