Queere Identitäten in der Gesellschaft der Singularitäten. Jahrestagung Schwule Theologie 2022.

Masken im Karneval
Rosel Eckstein, pixelio.de
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Queere Identitäten in der Gesellschaft der Singularitäten. Jahrestagung Schwule Theologie 2022.
Um Gendersternchen und Co. tobt ein Kulturkampf. Welche Bedeutung hat Identität innerhalb der christlichen Anthropologie, wie geht schwule Theologie mit der Vielfalt der Identitäten um?

Giorgia Meloni, die neue italienische Ministerpräsidentin, hat der "Gender-Ideologie" den Kampf angesagt - doch nicht nur sie: Gendersternchen sind schon lange zum Reizbegriff konservativer Kreise geworden. Um die queere Identitätspolitik tobt ein Kulturkampf - der auch von "linker" Seite tüchtig befeuert wird: Von Linken wird die Identitätspolitik als Abkehr von einer Politik der sozialen, materiellen Gerechtigkeit kritisiert. Andere sehen in der Arbeit an einer kollektiven Identität die Voraussetzung, um diskriminierende Strukturen bekämpfen zu können. Der Streit geht mitten durch die LGBTIQ-Community, wo die Konfliktlagen immer unübersichtlicher werden: Tuntentheorie gegen Queerfeminismus, Transidente gegen lesbische Radikalfeministinnen, migrantische Nichtbinäre gegen altliberale Schwule. Und der Rechtspopulismus lacht sich ins Fäustchen über das Empörungspotential, das er gegen die gesamte LGBTIQ-Community ausspielen kann.

Die Arbeitsgemeinschaft Schwule Theologie hat diesen Kulturkampf zum Schwerpunkt ihrer Jahrestagung vom 30.9. bis 3.10.2022 im Waldschlösschen bei Göttingen gemacht. Im Mittelpunkt standen dabei die Fragen, wie Identität "entsteht" und welche Bedeutung Identitäten oder Identitätszuschreibungen in der christlichen Gemeinde und in einer christlichen Anthropologie haben. Plädiert Paulus nicht dafür, Identitätszuschreibungen zu überwinden, wenn er im Galaterbrief davon spricht, dass in der christlichen Gemeinde nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau ist, sondern alle eins sind in Christus (Gal 3,28)?

Die Vielfalt der Identitäten, die wir aktuell erleben, ist nach dem Soziologen Andreas Reckwitz Ausdruck einer "Gesellschaft der Singularitäten", die in dieser Form erst zum Ende des 20. Jahrhunderts entstanden sei. Reckwitz zeigt in seinem gleichnamigen Buch, dass die klassische Moderne bis in die 1970er Jahre hinein von der sozialen Logik des Allgemeinen geprägt gewesen ist: Wie in der industrialisierten Arbeitswelt Arbeitsprozesse standardisiert und generalisiert werden, so sei auch das soziale Zusammenleben von Verallgemeinerung und großen kollektiven Identitäten gekennzeichnet gewesen. "Die Arbeiterschaft" wählte natürlich SPD, im Sommer war nicht die möglichst besondere Insel der Sehnsuchtsort, sondern die Adria oder die griechischen Küsten, an denen durch den Massentourismus "Urlaub für alle" möglich wurde.

Im Übergang der 1970er zu den 1980er Jahren, so beschreibt es Reckwitz, sei diese Logik des Allgemeinen immer mehr von der Logik des Besonderen abgelöst worden: Arbeitswelten differenzieren sich aus, individuelles Profil und individuelle "Performance" werden zu wichtigen Auswahlkriterien im Bewerbungsverfahren. Authentizität wird zum Leitbegriff des Lebens in immer mehr Lebensbereichen. Die "authentische" Mittelmeerinsel muss es nun im Urlaub sein, nicht mehr die standardisierte Stranderfahrung des Massentourismus. Insbesondere die neue (akademische) Mittelklasse bilde in dieser Phase der Spätmoderne eine Vielzahl singularistischer Lebensstile heraus. Und immer gehe es dabei um die möglichst authentische Zur-Schau-Stellung des Selbst.

Es ist dieser soziologische Kontext der Spätmoderne, der die Ausdifferenzierung queerer Identitäten, die wir heute kennen, überhaupt erst möglich macht. Dies ist einerseits Zeichen neu gewonnener Freiheit, doch Reckwitz zeigt auch, dass diese Suche nach möglichst authentischer Selbstdarstellung zu neuen Zwängen führen kann: Was ist, wenn das "ganz besondere" Tattoo plötzlich von ganz vielen getragen wird?

Dass Identität nichts Feststehendes ist, sondern im Zusammenspiel von Zuschreibung und Selbstdefinition immer wieder neu entsteht, war auch zentrale Aussage des Vortrags von Ulrike Auga, die als evangelische Theologin schon lange im Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin mitarbeitet. Statt von "Identität" spricht sie daher lieber vom Zusammenspiel von "individueller Subjektivität" und "kollektiver Zugehörigkeit". Identität entsteht also durch gemeinsame, geteilte kollektive Erfahrungen - und je vielfältiger meine Erfahrungsräume und -zusammenhänge sind, umso vielfältiger oder fluider werden meine Identitäten.

Menschliches Blühen - eine Bezeichnung, die Ulrike Auga dem klassischen christlichen Begriff des erfüllten Lebens vorzieht - wird möglich, wenn diese vielfältigen Subjekte und Kollektive in solidarischer Gemeinschaft leben und ihre Gesellschaft so gestalten, dass alle individuelle und kollektive Handlungsmacht erfahren.

Dass solche eine solidarische Gesellschaft weit mehr erfordert als die paulinische Überwindung von binären Identitäten, wurde den Teilnehmenden sehr schnell im Gespräch mit Miki Herrlein deutlich: Miki versteht sich als trans und non-binäre Person und kommt damit schon in der Bäckerei immer wieder in Situationen, die Unwohlsein erzeugen: "Da ich phänotypisch als Mann wahrgenommen werde, werde ich natürlich gefragt 'Der Herr, was darf's denn sein?' - Das wird meiner Identität aber absolut nicht gerecht." Ähnliches passiere, wenn beim Arzt "Herr Herrlein" aufgerufen werde.  "Warum kann es nicht einfach heißen 'Miki Herrlein bitte!'?", gibt Miki zu bedenken.

Manchmal ist es also gar nicht so schwer, binäre Muster zu vermeiden, wie das Beispiel aus dem Wartezimmer deutlich macht. Anderes erfordere etwas Übung und Kreativität, gesteht Miki zu - und macht Mut, Personalpronomen zum Beispiel einfach durch den Namen der Person zu ersetzen.

Toilettenräume, Sportvereine, aber natürlich auch unsere pastorale Praxis sind über weite Strecken wie selbstverständlich von binären Identitätszuschreibungen bestimmt. So stand am Ende der Tagung auch die Frage im Raum, wie eine non-binäre Taufliturige oder eine Segensfeier für ein non-binäres Paar gestaltet werden könnten. Zumindest über Letzteres dürften die Schwulen Theologen bei ihrer Tagung im nächsten Jahr weiter nachdenken, denn vom 13. bis 15. Oktober 2023 sollen Segensliturgien und -rituale im Waldschlösschen im Mittelpunkt stehen.

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