Die pietistisch-evangelikale Bewegung ist in ihrer Haltung zur Homosexualität heute plural

Matthias Albrecht
Michael Diener
Interview mit Michael Diener
Die pietistisch-evangelikale Bewegung ist in ihrer Haltung zur Homosexualität heute plural
Wie persönliche Begegnungen und eine andere Art des Bibellesens Christ:innen dazu befreien können, ihre gleichgeschlechtlich liebenden Geschwister zu akzeptieren, erklärt der ehemalige Vorsitzende der Evangelischen Allianz Michael Diener.

Albrecht: "Du wirst im Herbst bei der Veranstaltung Coming- In Live sprechen. Das ist eine große Konferenz einer Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass in christlichen Gemeinden alle willkommen sind, insbesondere Menschen, die wegen ihrer Homo- oder Bisexualität bzw. Transgeschlechtlichkeit bislang ausgeschlossen werden. Was erhoffst Du Dir von dieser Veranstaltung?"

Diener: "Wichtig finde ich den Austausch, die Sensibilisierung für die Anliegen der LSBTTIQ Community, gegenseitige Ermutigung. Und außerdem bin ich total neugierig: ich war ja noch nie bei einer Veranstaltung von Zwischenraum dabei."

Albrecht: "In einem Interview sagtest Du, dass sich Deine Haltung zu Homosexualität etwa vom Jahr 2011 an bis heute von einer völlig konservativen zu einer völlig offenen entwickelt habe. Wie würdest Du diese Entwicklung beschreiben? Und was hat es Dir persönlich schwer gemacht, zu der offenen Haltung zu gelangen? Was hat Dir aber auch dabei geholfen?"

Diener: "Heute reflektiere ich selbst ziemlich intensiv, was mich auf den Weg führte, auf dem ich lange Zeit war und warum ich den heute nicht mehr gehe. Ich würde sagen, es gibt dabei zwei Grundthemen, die zu beachten sind. Meine frühere Position war geprägt von einer bestimmten gesellschaftlichen Wahrnehmung von Homosexualität. Da gab es in den 70er Jahren gesellschaftliche Vorprägungen, die sich dann auf einen jungen Menschen drauflegen, die er gar nicht reflektiert. Besonders nochmal in meiner 'Subkultur'. Wir sind ja auch kulturelle Wesen, die in einer bestimmten Zeit existieren. Mir ist sehr deutlich geworden, dass ich durch Randgespräche, durch die übliche Art und Weise, wie man in der Gossensprache über Homosexuelle gesprochen hat, zugelassen habe, dass es Teil der eigenen Prägung wird, ohne dass man es noch hinterfragt. Und das finde ich jetzt im Nachhinein die für mich überraschendere Entwicklung, sich klarzumachen: Wo war ich auch von einer homofeindlichen Kultur, die sicherlich in den 70er, 80er und 90er Jahren in unserem Land noch stärker vorhanden war, geprägt? Und gar nicht so sehr, wie das fromme Christenmenschen meinen - ich komme aus einer sehr frommen christlichen Welt -, primär durch die Aussagen der Bibel. Also heute würde ich sagen, diese gesellschaftliche Prägung hatte eine sehr starke Kraft, die hat sich parallel dargestellt zu einer für mich aus den biblischen Texten ablesbaren, damals eindeutig negativen Haltung der Bibel zu Homosexualität. Es gab ein gesellschaftliches Argument und es gab ein dezidiert hermeneutisch religiöses Argument. Ich glaube, über diese beiden Felder müssen wir immer wieder sprechen, wenn wir über dieses Thema reden. Dass ich heute eine völlig andere Position dazu einnehme, das hat auch mit der Veränderung des gesellschaftlichen Klimas zu tun. Ich wollte mir das selbst nicht so eingestehen, weil man da immer so konformistisch rüberkommt. Nach dem Motto: Wenn eine Gesellschaft überwiegend etwas kritisch sieht, sehe ich es auch kritisch, wenn eine Gesellschaft etwas überwiegend positiv sieht, sehe ich es auch positiv. Aber ich glaube, man darf dieses Argument nicht unterschätzen, dass das kulturelle Gepräge einer Zeit dabei eine ganz entscheidende Rolle spielt. Ich glaube, dass diese gesellschaftliche Veränderung meine Meinungsänderung beeinflusst hat.

Die zwei anderen Gründe, die ich ganz klar benennen kann, haben wiederum mit eigenbestimmter Meinungsfindung zu tun. Einmal eine wachsende dezidiert plurale Sicht auf das Phänomen Homosexualität in der theologischen Literatur, für mich wahrnehmbar seit den 90er und den 2000er Jahren. Und für mich ganz wichtig, die Begegnung mit homosexuellen Christ:innen, die an der Stelle ganz entscheidend dazu beigetragen haben, dass ich irgendwann meine in der Theorie geformten Lehrgebäude hinterfragen konnte."

Albrecht: "Gab es da persönliche Begegnungen, die dich besonders beeindruckt, bewegt oder verändert haben?"

Diener: "Ja, zwei. Anfang der 80er Jahre in meiner frühen Jugendzeit hat ein ebenfalls aus einem frommen Background kommender älterer Bekannter, der schon in dieser Zeit eine positive Haltung zu Homosexualität eingenommen hatte, mich aufgrund meiner kritischen Haltung, die ich irgendwo als Jugendleiter geäußert hatte, hinterfragt. Und er hat mir daraufhin den Kontakt zu einem homosexuellen Mitchristen vermittelt, der echt so mutig war, mir einfach zu schreiben, weil dieser Bekannte ihn gebeten hatte, mir seine Sichtweise zu schildern. Das ist bis heute etwas, was mir noch zu schaffen macht, wie ich damals mit der Keule der Rechtgläubigkeit und der Bibelstellen ihn ziemlich 'abserviert' habe. So wie ich das heute in vielen anderen Veröffentlichungen lese – mit ein paar salbungsvollen Sätzen außen rum, dass das ja jetzt nicht meine Meinung wäre, sondern die Meinung der Bibel und dass es nicht persönlich gemeint wäre. Ich erinnere das heute noch mit Schrecken, und das hat, glaube ich, was ausgelöst. Das habe ich erst später bemerkt, aber in diesem Änderungsprozess bei mir hat das eine große Rolle gespielt.

Die zweite Begegnung war bei einer Blankenburger Allianzkonferenz, eine Traditionsveranstaltung der Deutschen Evangelischen Allianz, also sozusagen ein Treffen der Evangelikalen. Es muss um die 2010er Jahre gewesen sein. Ich hatte dort einen der öffentlichen Vorträge und Predigten gehalten und war mit einem Nebensatz auf das Thema Homosexualität gekommen, im klassisch konservativen Jargon; also mich kritisch zu praktizierter Homosexualität – wie ich damals immer sagte – geäußert. Nach dem Vortrag kam ein älteres Ehepaar zu mir. Der Mann hinter seiner Frau blieb die ganze Zeit schweigsam, aber sie bat mich um ein Gespräch. Ich sagte, ohne zu wissen worum es geht: 'Ja, gerne, wir können reden'. Wir haben uns in dieser großen Halle dann an den Rand gesetzt. 

Ich habe die Hände dieser alten Frau noch vor Augen. Das muss eine Frau gewesen sein, die ihr Leben lang hart gearbeitet hat. Kein besonders intellektueller Hintergrund. Ihr liefen die Tränen über die Wangen. Sie sagte zu mir: 'Herr Diener, wollen Sie wirklich behaupten, dass unsere beiden Söhne verdammt sind? Denn unsere beiden Söhne sind homosexuell.' Ich werde das Gespräch nicht vergessen. Es war gar nicht lange, aber es hat sich mir tief eingegraben, dass da ein Mensch aus einer tiefen religiösen Prägung, die meiner sehr ähnlich war, völlig erschüttert ist und hin und her wankt und bei mir seelsorgerliche Hilfe suchte. Da war es, dass ich zum ersten Mal in einem Gespräch aufgrund der Wahrnehmung dieser Frau danach gedacht habe: Es kann so nicht weitergehen, es muss etwas anderes geben, das ist nicht richtig, was ich hier tue, was ich hier sage. Gedacht habe ich das schon vorher, aber damals zum ersten Mal im Kontext einer Person, die mir wirklich gegenüberstand.  

Danach kamen ganz viele Begegnungen mit homosexuellen Menschen selbst dazu. Sehr intensiv und wirklich zutiefst bewegend und aufrüttelnd seit 2016. Ich habe das jetzt mal ganz bewusst hinten angestellt, weil diese anderen frühen Begegnungen eine besondere Schlüsselfunktion für mich bis heute haben. In diesen Begegnungen ist mir unglaublich viel Vertrauen geschenkt worden. Menschen haben wissend um meine konservative Haltung trotzdem offen mit mir geredet. Und das alles hat eine entscheidende Rolle gespielt. Ich habe irgendwann auch angefangen, das sehr offen zu benennen. Es gibt ja so eine Haltung in der Theologie, dass man seine Position anhand von Texten situationsunabhängig in der Wahrnehmung und der objektiven Betrachtung dieser Texte gewinnt. Ich halte das inzwischen für völligen Unsinn. Ich glaube, dass wir sehr eingebunden sind in die jeweilige kulturelle, aber auch subjektive Beziehungswelt. Dass wir gar nicht anders können als Texte auch subjektiv zu lesen und subjektiv zu betrachten, das wissen wir ja auch aus der Wissenschaftstheorie. Ich stehe heute dazu, dass meine Art und Weise die Bibel zu lesen, ganz entscheidend davon mitgeprägt worden ist, welchen Menschen ich begegnet bin und wie diese Menschen mir ihre Sicht dieser Bibeltexte auch erläutert und erklärt haben."

Albrecht: "Du hast jetzt Deinen eigenen Weg hin zu einer offenen Haltung beschrieben, einschließlich der Schwierigkeiten, die Du dabei hattest. Was glaubst Du, macht es Christ:innen aus pietistischen und evangelikalen Gemeinden allgemein bis heute so schwer ihre diskriminierenden Haltungen und Handlungen bezüglich Homosexualität zu überdenken und zu beenden?"

Diener: "Es gibt so ein bekanntes Maklersprichwort, wenn es um den Kauf eines Hauses geht. Es gibt drei Argumente für ein Haus: 'Erstens Lage, zweitens Lage, drittens Lage'. Wenn Du das anwendest auf unser Thema würde ich sagen, es gibt drei Argumente für eine pietistisch- evangelikal-konservative Haltung in der Frage der Homosexualität: 'Erstens Bibel, zweitens Bibel, drittens Bibel.' Es hat ganz entscheidend mit dem tief verwurzelten - und jetzt erst noch mal wirklich ehrlichen und ernstzunehmenden - Wunsch von Menschen aller Altersklassen zu tun, dem Wort Gottes gehorsam zu sein. In meinen Augen - und das kann ich auch für mich so sehen - steckt etwas zutiefst Positives dahinter: ich wollte nie in meinem Leben über irgendeinen Menschen etwas Negatives sagen oder einem Menschen seine Lebensweise absprechen. Nie wollte ich das. Aber ich fühlte mich verpflichtet, in dieser Haltung trotzdem dem Wort Gottes gehorsam zu sein. Und dann kommt dieser klassische Spruch, Sünde beim Namen zu nennen, also den Menschen zu sagen, dass sie von Gott geliebt sind, jeder Mensch ist von Gott geliebt, aber Gott liebt den Menschen und nicht seine Sünde und das muss unterschieden werden. Und mit dieser aus der Auslegung der Bibel gewonnenen Haltung lässt sich die negative Haltung pietistisch-konservativ geprägter Menschen und evangelikal-konservativ geprägter Menschen am besten erklären.

Ich will gleich zwei Nachbemerkungen dazu stellen. Im Moment ist in dieser Frage in der pietistisch-evangelikalen Welt sehr viel im Fluss. Seit den 2010ern tut sich sehr, sehr viel. Gott sei Dank! Endlich. Also man darf nicht mehr schubladisiert davon sprechen, dass pietistisch-evangelikale Menschen eine ablehnende Haltung zu Homosexualität hätten. Das andere, was man sich immer klar machen muss: Wenn ich so sage: 'Erstens Bibel, zweitens Bibel, drittens Bibel', dann würde ich aber auch wieder das von mir vorhin betonte starke Argument der Gesellschaft und der Kultur und der Umgebung nicht außer Acht lassen wollen. Wer heute eben trotz einer relativ offenen gesellschaftlichen Kultur, jedenfalls auf den ersten Blick offenen gesellschaftlichen Kultur, in einem sehr konservativen Milieu aufwächst, der hat es immer, oder sie hat es heute immer noch schwerer, aufgrund dieser Subkultur, an der Stelle eine andere Positionierung zu gewinnen. Also auch die kulturelle gesellschaftliche Frage darf nicht außer Acht gelassen werden."

Albrecht: "Die Vehemenz, mit der die Diskussion über Homosexualität in der sogenannten frommen Welt geführt wird, ist sehr auffällig. Könnte es sein, dass Homo- oder Bisexualität und Transgeschlechtlichkeit Chiffren sind, unter denen auf einer tieferen Ebene ganz andere Themen, Konflikte und Ängste liegen? Und wenn ja, welche könnten das sein?"

Diener: "Jein.  Ich verstehe diese Frage und ich glaube, dass da auch was Wahres dran ist. Sexualität ist wie wir auch aus der ganzen Wissenschaft wissen etwas elementar Existenzielles für Menschen. Es ist daher völlig klar, dass gerade Fragen nach der Sexualität auch im Sinne einer ethischen Orientierung in Religionen immer eine große Rolle gespielt haben. Also, man stelle sich nur mal vor, die Frage nach der Homosexualität würde noch offener in islamisch-muslimischen Kulturen gerade aufbrechen, was das bedeuten würde. In meinen Augen ist das Interesse an diesen Themen zuerst darin begründet, dass Fragen nach der Sexualität tiefe Menschheits- und Existenzfragen sind. Zugleich sind es Fragen, bei denen in der Tat ein pietistisch- und evangelikal geprägtes Glaubensbild deshalb besonders darauf schaut, weil in diesen Glaubensbildern das Thema der Heiligung entscheidend wichtig ist. Wenn man sich die Lasterkataloge oder die Tugendkataloge des Neuen Testamentes anschaut, merkt man, dass da eben auch die sexuellen Fragen immer eine große Rolle spielen. Man kann immer noch sagen, andere Themen, eher gesellschaftlicher Natur, werden nicht ebenso belichtet, das stimmt. Das hat wiederum damit zu tun, dass die Ethik in pietistisch-konservativ-evangelikalen Kreisen überwiegend eine Individualethik ist. Es sind weniger die Fragen gesellschaftlicher Ethik im Blick gewesen, als diese Bewegungen entstanden sind. Wenn man die grundsätzliche Bedeutung von Sexualität und die Betonung der Individualethik zusammennimmt, dann kann man nachvollziehen, warum in dieser frommen Welt darüber so viel diskutiert wird.

Zugleich wird mit Vehemenz gerade jetzt diskutiert, weil das Thema eben aufbricht. Da kann eigentlich nichts Besseres passieren, als dass so vehement diskutiert wird. Zugegebenermaßen über ein Thema, das für viele andere theologisch und gesellschaftlich schon seit 20 oder 30 Jahren erledigt ist. Aber jetzt ist es eben so und deshalb finde ich es gut, dass das so seit 15 Jahren in einer anderen Tonart diskutiert wird, als das früher der Fall gewesen ist. Man muss sich schon klar machen, was das bedeutet, dass offizielle Verlautbarungen evangelikaler Gremien in der Regel inzwischen plural angelegt sind, also verschiedene Standpunkte zulassen oder wenigstens Verantwortungsträger mit einem offenen Ansatz nicht mehr ausgrenzen. Das gilt natürlich für die Organisationen, die ich als 'eher fundamentalistisch' einstufe, ausdrücklich nicht. Aber unbestritten ist in der pietistisch-evangelikalen Welt etwas aufgebrochen, was nicht mehr zurückgedreht werden kann. Spät, aber immerhin. Gott sei Dank.

Zentral für diese Entwicklung ist, wie ich das vorhin schon sagte, letztlich immer die hermeneutische Frage. Der Grundansatz, um die evangelikal-pietistische Welt in Ihrem Verständnis in diesen Fragen zu verstehen, ist die Klärung der hermeneutischen Fragen: Wie lesen wir die Bibel? Wie verstehen wir die Bibel? Da muss man sagen, dass es Menschen mit einer solchen Hermeneutik eben schwer fällt, wenn es nicht im innerbiblischen Kontext eine Weitung und Öffnung gibt, dann derartige Fragen heute anders zu entscheiden, als es dem gesellschaftlich kulturellen Bild der Bibel vor zweitausend Jahren entsprochen hat. Nehmen wir als Beispiel die Frauenfrage, es gibt in der Frauenfrage wenigstens im biblischen Kontext unterschiedliche Akzente und Betonungen. Aufgrund dieser unterschiedlichen Akzente und Betonungen ist die evangelikale Welt in der Meinung zur Frauenfrage plural. Es gab hingegen vor etwa zehn Jahren eine Veröffentlichung der englischen Evangelischen Allianz, da haben sie einen Grundlagentext zu Homosexualität verfasst, in dem genau das ein Grundargument ist: Da wird gesagt, in der Frauenfrage entwickelt sich in der Bibel was und weil sich in der Bibel was entwickelt, dürfen wir uns auch entwickeln. Aber in der Frage der Homosexualität entwickelt sich in der Bibel gar nichts, also dürfen wir uns auch nicht entwickeln. Und da sieht man wie die Hermeneutik eine kulturelle Betrachtungsweise völlig verhindert. Hier wird eine moderne Gesellschaft im 21. Jahrhundert in ihrer geistlich-lebendigen Betrachtung des Wortes Gottes daran gebunden, in dieser Betrachtung des Wortes Gottes nicht über den kulturellen Status einer Zeit von vor 2000 Jahren hinauszugehen. Man muss sich mal vor Augen führen, was da passiert. Wenn man das tut, merkt man, warum es so nicht bleiben kann und auch nicht bleiben wird."

Albrecht: "Du sagst, dass Biographie und Hermeneutik Schlüsselthemen für pietistisch und evangelikal geprägte Menschen auf dem Weg zu einer LSBTTIQ-Willkommenskultur sind. Darum soll es auch bei Deinem Vortrag bei Coming-In Live gehen. Ohne den Vortrag vorwegnehmen zu wollen: Kannst Du unseren Leser:innen ein paar erste kurze Einlassungen zu diesen Thesen geben?"

Diener: "Ich will mit meinem Vortrag deutlich machen, wie es zu dieser konservativen Prägung in einem pietistisch-evangelikalen Kontext kommt und wie an dieser Stelle auch eine Öffnung und eine Veränderung geschehen kann. Ich glaube, es ist jetzt schon deutlich geworden, dass diese Veränderung und Öffnung in diesen Gruppierungen nur dann geschehen kann, wenn eine andere Hermeneutik und eine andere Art des Bibellesens, die Menschen dazu befreit, das heißt, ihnen die Erlaubnis gibt, in diesen Fragen auch anders zu glauben. Zugleich wenn man sich den gesellschaftlichen Kontext klar macht, gehören Begegnungen mit Menschen dazu. Ich mag da das Wort Betroffene nicht, Homosexualität ist für mich nichts mehr, von dem man betroffen ist."

Albrecht: "Wo siehst Du konkret positive Entwicklungen in pietistischen und evangelikalen Kreisen im Umgang mit Geschwistern, die gleichgeschlechtlich lieben?"

Diener: "Wir reden hier ja speziell über die Frage der Homosexualität und überhaupt insgesamt Wahrnehmung von Gender und LSBTTIQ. Selbstverständlich gibt es aber auch ansonsten wertvolle Erkenntnisse in der pietistisch-evangelikalen Frömmigkeitsprägung. Ich bin überzeugt, dass wir das Christentum der Zukunft in unserem Land nicht gestalten können ohne dass wir auch pietistisch-evangelikale Konzepte mit einbeziehen. An ganz vielen Stellen kann man von pietistischen, evangelikalen Gemeinden auch viel lernen. Ich finde es furchtbar, wenn man das Kind mit dem Bade ausschüttet und aufgrund dieser Positionierung, die ich natürlich heute für falsch halte, die ganze Bewegung nur mit den Fingerspitzen anfasst und sie am liebsten gar nicht oder nur mit Ekel verzerrtem Gesicht nennt. Das wird dieser Bewegung und ihrer Bedeutung auch für eine gesunde, gute missionarische Entwicklung des Christentums im 21. Jahrhundert überhaupt gar nicht gerecht. In der Zeit, in der ich Allianz Vorsitzender war, war es so, dass ich mir eigentlich kaum das Thema Homosexualität herausgesucht habe, sondern ich wurde permanent in jedem Interview, in jeder Anfrage darauf angesprochen.

Der Grund, warum das Thema aus evangelikalem Munde so oft genannt wird, liegt einerseits darin, dass es einen Bekennergeist gibt zu sagen: 'Jawohl, wir sind ja noch die Rechtgläubigen'. Es gibt aber auch den Grund, dass man permanent auf dieses Thema reduziert und damit identifiziert wird. Das macht es für das Miteinander auch nicht leicht. Vielleicht das noch als längere Vorbemerkung zu Deiner Frage, lieber Matthias. Wenn man nun das reine Themenfeld dieser sexualethischen Fragen anschaut, dann ist doch absolut Mut machend, dass diese Blockhaltung: 'Wir sind in der Frage der Homosexualität, als pietistisch-evangelikale Verantwortungsträger oder als pietistisch-evangelikale Repräsentant:innen einer Meinung', dass die nicht mehr da ist, das hat sich wirklich geändert. Also das war ja auch die große Frustration, die mit meinem Interview 2015 in der WELT losgetreten worden ist, dassjemand, der sowohl Gnadauer Präses als auch Allianz Vorsitzender war, diese bisher als öffentliche Meinung nicht hinterfragte Position deutlich aufgeweicht hat.

Es  gab schon immer Menschen, die in der evangelikal-pietistischen Welt mit einer offenen Position unterwegs waren, lange vor mir, ich bin da wahrlich nicht der Erste gewesen. Aber es war damals zum ersten Mal so, dass das in einer - in Anführungszeichen - Verantwortungsfülle, eben von Gnadauer Präses, Allianz Vorsitzendem und Mitglied im Rat der EKD geschehen ist. Und das hat zu diesen heftigen Gegenbewegungen geführt. Und da kann man schon sagen, heute ist erkennbar: Die pietistisch-evangelikale Bewegung ist in ihrer Haltung zur Homosexualität und zu queeren Menschen grundsätzlich plural und nicht mehr einseitig ablehnend und das halte ich für eine ganz entscheidend positive Entwicklung. Ich könnte viele einzelne Beispiele aufzählen, was ich jetzt nicht tue, - weil das Hintergrundwissen ist - und dann die betroffenen Einrichtungen sicher wieder dem konservativen Druck derer in diesem Lager, die das immer noch konservativ sehen, ausgesetzt sind. Aber die Entwicklung geht in die richtige Richtung."

Albrecht:"Noch eine persönliche Frage am Schluss: Du hast vor wenigen Monaten ein Sabbatjahr beendet. Welche Erfahrungen und Erkenntnisse hast Du aus dieser Zeit mitgenommen?"

Diener: "Mein Sabbatjahr ist ja ganz anders verlaufen wie geplant. Geplant war es als Zäsur zwischen der Aufgabe meines Amtes in der pietistischen Bewegung und meiner Rückkehr in den kirchlichen Dienst. Und zugleich war es geplant als Langzeitaufenthalt in Australien und Neuseeland. Dann kam Corona und alles wurde anders. Von daher schaue ich heute auch ambivalent auf das Jahr zurück. Mir tut schon leid, dass ich vieles, was ich mir für das Jahr vorgenommen hatte, auch mit Klosteraufenthalten und so, nicht durchführen konnte. Aber trotzdem, was in diesem Jahr gelungen ist, ist, einen notwendigen Abstand zu den Ereignissen meiner insgesamt dann 12-jährigen Dienstzeit in der pietistisch-evangelikalen Welt zu erhalten. Aber auch einen notwendigen Abstand zu mir selbst. Zuzulassen, dass bestimmte Wunden heilen, dass die Dinge, sich bei mir sortieren. Ich habe dann in dieser Zeit auch mein Buch Raus aus der Sackgasse geschrieben. Dieses Schreiben des Buches hatte so ein bisschen auch einen therapeutischen Aspekt.

Ich habe versucht, meine Gedanken zu klären. Ich hab versucht, mir selbst gegenüber Rechenschaft abzulegen, wo ich emotionalisiert reagiere und nicht sachlich fundiert. Das Jahr sollte eine Klärungszeit für mich sein und eine Klärungszeit ist es auch für mich geworden. Ich habe ein bisschen unterschätzt, dass sich solche Prozesse nicht vom 1. September 2020 bis 31. August 2021 terminieren lassen - also dass das Ganze eine Entwicklung ist, die auch inhaltlich geschieht und die man nicht einfach so in ein bestimmtes Zeitfenster pressen kann. Aber dieses Jahr hat mir richtig, richtig gut getan, auch um zum Beispiel dem Guten und dem Wertzuschätzenden aus diesen Jahren, dem wieder den gebührenden Platz zu geben, nicht nur auf das Kritische zu schauen. Wir Menschen sind ja so, dass wir zehn Mal gelobt werden und dann kommt eine kritische Bemerkung und wir messen der kritischen Bemerkung oft viel mehr Bedeutung zu wie dem Guten. Und ich habe in diesen 12 Jahren in der pietistisch-evangelikalen Bewegung auch unglaublich viel Gutes erlebt, Gutes mit den Bewegungen, aber auch Gutes mit einzelnen Menschen. Ich hab so viele ehrenwerte und zutiefst wertzuschätzende Christenmenschen kennengelernt. Das alles einzuordnen, an der richtigen Stelle, das war, glaube ich, eine wichtige Entwicklung."

Albrecht: "Hast Du ein Gebetsanliegen, das Du den Leser:innen des KREUZ&QUEER Blogs anempfehlen möchtest?"

Diener: "Dass diese Entwicklung, die ich jetzt geschildert habe, dass die weitergeht. Dass Gott unser Herz so öffnet, dass wir einander wirklich als Christ:innen erkennen und in unserer Verschiedenheit respektieren. Dass eine tiefere Wahrheit und Erkenntnis Raum greift, was für ein kostbares Geschenk das Wort Gottes auch gerade dann ist, wenn ich es in seiner kulturellen Gewordenheit ernst nehmen und respektieren kann. Und natürlich ist mein Gebetsanliegen, dass bei so vielen, vielen Menschen, die durch die ablehnende Haltung in der pietistisch- evangelikalen Bewegung zu Homosexualität wirklich Schaden genommen haben, dass da so viel wie möglich wieder heilen kann. Ich bin der Letzte, der davon ausgeht, dass Alles wieder gutzumachen wäre, dazu habe ich zu viele wirklich traumatisierende Erfahrungen erzählt bekommen, aber dass vieles und manches wieder heilen kann, darum bete ich auch persönlich immer, immer wieder.

 

Michael Diener (59) ist Dekan in der Evangelischen Kirche der Pfalz und lebt in Germersheim. Er ist außerdem Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland  und war Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes sowie viele Jahre Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz.

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