In den achtziger Jahren, in einer gottverlassenen Zechensiedlung am Stadtrand von Glasgow wächst Shuggie Bain in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater, ein Taxifahrer, hat ihn nebst Bruder und Mutter hierher in ein schäbiges Mietshaus verfrachtet, sprichwörtlich aus dem Weg geräumt, um anderswo seinen eigenen Dingen - toxisch-männlich zählt ihm auch eine neue Frau dazu - nachzugehen. Agnes, Shuggies Mutter, ist Alkoholikerin – und ihren beiden Kindern, speziell Shuggie, fällt die Aufgabe zu, sie vor dem schlimmsten zu bewahren. Von den Nachbarskindern und den Schulkameraden wird Shuggie drangsaliert, verlacht und verprügelt, weil er „anders“ ist, ein weiblicher, gefühlsbetonter Außenseiter. Von seinem Lehrer, Father Barry, erhält Shuggie keine Hilfe. Als der Junge ihn bittet, dafür zu sorgen, dass er nicht mehr verhauen wird, lässt ihn Father Barry nachsitzen und ihn „die Geschichte vom Märtyrer lesen“.
Shuggies Kindheit wird von seiner Mutter Agnes dominiert, er muss die Launen und Stimmungsschwankungen einer gebrochenen Frau aushalten. Zugleich gibt es Zeichen der zärtlichen Liebe, aber sie sind rar. Kurzzeitig scheint Agnes mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker den Teufelskreis durchbrechen zu können, sie lernt auch einen neuen Mann kennen, doch ausgerechnet er wird Agnes zum nächsten Glas Alkohol drängen.
„Shuggie Bain“ ist über weite Strecken das Porträt von Shuggies Mutter. Der Roman verknüpft ihre Alkoholsucht mit der Suche eines Jungen nach seiner Identität, nach seinem Platz in der Gesellschaft. Es ist ein heftiger, aufwühlender Roman, dem es in seinen besten Momenten gelingt, den Personen in aller Düsternis auch ihre Würde zu bewahren. Nicht zufällig wird Agnes mit (dem Mythos) Liz Taylor verglichen. Die Personen des Romans sind keine Heilige. Es sind Menschen, die versuchen, in widrigsten Umständen zu überleben.
In einer Schlüsselszene tanzt Shuggie seiner Mutter eine Schrittfolge vor, die er im Musikvideo „Controll“ von Michael Jacksons Schwester Janet gesehen hat – zu spät bemerkt er, dass die Nachbarn durchs Fenster zuschauen und ihn auslachen. Er will aufhören, ihm kommen die Tränen. „Wenn ich du wäre, würde ich weitermachen“, rät ihm seine Mutter. „Gib ihnen die Genugtuung nicht.“ Shuggie erkennt, was trotz ihrer Suchterkrankung die Stärke seiner Mutter ausmacht: „Jeden Tag schminkte und frisierte sie sich und stieg mit hoch erhobenem Kopf aus ihrem Grab. Wenn sie sich im Suff blamiert hatte, war sie am nächsten Tag aufgestanden, hatte ihren besten Mantel angezogen und war der Welt entgegengetreten.“
Über weite Strecken hat der schottische Autor und Modedesigner Douglas Stuart, der mit seinem Ehemann in New York lebt, seine eigene Kindheit im Roman verarbeitet. „Shuggie Bain“ ist eine Art traurige Hommage an seine Mutter, zugleich ein mit psychologisch feinem (und deswegen oft unerbittlichem) Gespür gezeichnetes Bild armer, abgehängter Menschen aus der Arbeiterklasse in Zeiten der Regierung von Margaret Thatcher. Es kontrastiert bewusst mit dem glamourös-hedonistischen Lebensgefühl, dass die achtziger Jahre ebenfalls transportierten. „Klar, als schwuler Mann vor der Aids-Krise ging es dir prächtig in London“, so Douglas Stuart im Interview mit der „Zeit“, „als armer Schwuler in Glasgow, der in einer Kohlenzeche schuften musste, nicht so. Das war einer der Gründe, warum ich den Roman schreiben wollte: um Müttern und queeren Kids, die aus der Arbeiterklasse kommen, eine Stimme zu geben.“
Damit reiht sich Douglas Stuart ein in jüngste Veröffentlichungen aus Frankreich wie „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon oder „Das Endy von Eddy“ von Édouard Louis, die ebenfalls Homosexualität bzw. das Coming-out jenseits der urbanen Metropolen thematisieren. Wobei Stuart das politisch-kämpferische Moment dieser beiden fehlt. Er scheint eher auf die Kunst, auf Kreativität als Weg aus schweren Situationen zu vertrauen.
Mit seinem Blick auf die prekären Verhältnisse im Schottland der achtziger Jahre macht Douglas Stewart auf einen blinden Fleck in Selbstwahrnehmung und Selbstbild der queeren Community aufmerksam. Medial gesehen, schwelgt sie (wie auch die Kirchen mitunter) gern in der heilen Welt der gehobenen Mittelschicht. Armut, soziale Klassenunterschiede werden heute zwar gern im Schlagwort „Klassismus“ in die Runde geworfen, wirkliche Konsequenzen hat das freilich nicht. Die Community bleibt in ihrer (vermeintlichen) Wohlhabenheit gerne unter sich. Armut ist halt entgegen anderslautender Bonmots nicht sexy und auf politischer Bühne lässt sich damit wenig punkten.
Douglas Stuart ist mit "Shuggie Bain" im literarischen Bereich eine empathische Erinnerung gelungen - eine Erinnerung an die ökonomischen Verwerfungen in der Gesellschaft, über die Schäden, die den Menschen physisch und psychisch zugefügt werden, über die Würde, die sie trotz aller Widrigkeiten besitzen, über ein queeres Coming-out weit unterhalb medial erzeugter Glitzerwelten der Mittelschicht, und nicht zuletzt darüber, wie Hoffnung (manche würden es Glaube nennen) überdauern kann.
Buchinfo: Douglas Stuart: Shuggie Bain. Roman, aus dem Englischen von Sophie Zeitz, Hanser Berlin 2021, 496 Seiten, 26 Euro.