Der vollständige Leib und seine Glieder

Der vollständige Leib und seine Glieder
Sharon McCutcheon/unsplash
Vor Gott ist jeder Mensch vollständig, so wie er ist. Aber was braucht es, um Gemeinschaft vollständig(er) zu machen? Eine Pride Predigt von Katharina Payk

Die folgende Predigt wurde gehalten am 25.06.21 beim Pride Prayer in der Evangelischen Lutherkirche Wien gehalten. Predigttext: 1 Kor 12,12-27 (vorgelesen aus der Basisbibel)

Liebe Geschwister im Glauben, liebe queere Gemeinde!

Vor ein paar Monaten fragte mich eine Frau ohne Beine, ob sie vor Gott eigentlich vollständig sei. Ich hätte sie für diese Frage stürmisch umarmen können, aber das wäre übergriffig gewesen. Wir kannten uns nämlich gerade mal 5 Minuten. Ich lernte die Frau am Bahnsteig kennen, wohnungslos sei sie und auf der Suche nach einer Unterkunft für die Nacht. Gesprächsöffner waren ihre bunten FFP2-Masken, die sie mir verkaufen wollte – und dann schließlich unsere Behinderungen.

Auch Menschen ohne Behinderungen fragen sich das im Leben: Bin ich eigentlich vollständig? So als Mensch … so mit meinem Leben?

Für viele queere Menschen ist das ein Thema. Trans und intergeschlechtlichen Menschen etwa wird es schwer gemacht, in einer an Cisnormen orientierten Welt ihren Körper als vollständig zu empfinden.

Auch unsere heutige Leistungsgesellschaft fordert die Frage „Bin ich vollständig?“ fast unvermeidbar heraus. Viele Menschen erleben sich als Mängelexemplare, weil sie dem Druck nicht mehr standhalten können, dem Druck, eine gute Arbeitskraft zu sein, dem Druck, eine gute Partnerin zu sein, ein guter Vater …

Und Menschen werden krank, manchmal ganz plötzlich. Sind temporär oder langfristig eingeschränkt.

Mangel erleben und Mangel ausfüllen wollen ist vielleicht eine DER Erkrankungen in unserer sog. westlichen Welt.

Immer bedeutender wird es daher, sich bewusst zu machen: Ein kurzer oder längerer Ausfall im Job heißt nicht, dass ich weniger wert, weniger wichtig bin. Eine psychische Erkrankung ist nur ein Teil des Menschen – die Seele ist erkrankt und kann gleichzeitig stark sein.

Ein Mensch ist nicht nur seine Behinderung oder Krankheit, sondern seine ganze Leib-Seele.

Und gleichzeitig sind Geschichten von Behinderung, Transition etwa in den Leib eingeschrieben. Das ist meine Geschichte, alles, was ich an meinem Körper als mangelhaft empfinde, was mir Sorgen bereitet, hat mich geprägt und will und darf Raum haben.

Queere, behinderte, dicke, kranke, trans oder intergeschlechtliche Körper zeigen uns allen, was der lebendige Leib ist: im Wandel, in der Übung, verletzlich, im Fluss, sowie auch beobachtet und bewertet.

Und nämlich nur selten im Leben: leistungsstark, fit und makellos.

Mit unserer Gemeinschaft, der christlichen wie der queeren, ist es wie mit unserem Körper: Manche Glieder werden als besonders wichtig, andere als störend empfunden. Gemeindemitglied X finden alle anstrengend, weil er so viel Anerkennung und Anleitung braucht, Trans-Aktivistin Y finden alle anstrengend, weil sie immer so viel fordert, radikal ist.

In der Kirche wie auch in der Community möchte man sich wohl mancher „schwieriger Fälle“ wohl oft am liebsten entledigen.

„Aber der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: wir brauchen euch nicht“, so heißt es in unserem heutigen Predigttext aus dem 1. Brief an die Korinther, den wir gerade gehört haben. Eine Gemeinschaft braucht die unterschiedlichen Persönlichkeiten und Begabungen ihrer Mitglieder. Paulus schreibt diese Zeilen in eine zerstrittene Gemeinde in Korinth, die durch die soziale, religiöse und kulturelle Vielfalt ihrer Mitglieder geprägt war, hinein. In der Gemeinde herrschten starke Spannungen und Dissens in theologischen, sozialen und ethischen Fragen, zu denen Paulus in seinen Briefen Stellung bezieht. Der Brief ist Ermutigung und Mahnung zugleich.

Er beinhaltet die Metapher der Gemeinde als Leib Christi. Der körperliche Leib hat viele unterschiedliche, zusammenwirkende Glieder. So gibt es auch in der Gemeinde unterschiedliche Menschen und Gruppen, die jedoch nur den einen Leib Christ bilden, wenn sie zusammenarbeiten.

„Gott hat den Leib zusammengefügt. Er hat dafür gesorgt, dass die unscheinbaren Körperteile besonders geehrt werden.25 Denn im Leib darf es keine Uneinigkeit geben, sondern alle Teile sollen füreinander sorgen.26 Wenn ein Teil leidet, leiden alle anderen Teile mit. Und wenn ein Teil geehrt wird, freuen sich alle anderen Teile mit.“

Paulus will Zusammenhalt und solidarisches Miteinander stärken. Wie würde sich Paulus anhören, wenn er in unsere queere Community spräche? Wer sind die unscheinbaren Körperteile unter den LGBTIQs? Wer sind die am wenigsten Sichtbaren unter uns?

Wo sind die, auf die immer noch getreten wird? Nicht erst seit dem Skandal beim Fußballmatch Ungarn-Deutschland und dem Verbot der UEFA, eine Regenbogenflagge als Zeichen der Akzeptanz im Stadion zu platzieren, wissen wir, dass queere Menschen in Ungarn massiv diskriminiert und verfolgt werden. Transidenten Personen ist es seit letztem Jahr nicht mehr gestattet, den Geschlechtseintrag zu ändern und somit auch offiziell in ihrem Geschlecht zu leben.

Und trotz dass auch hier immer noch Regenbogenflaggen von Gebäuden und Kirchen abgerissen werden, zerstreiten sich Teile der LGBTIQ-Community zunehmend. In meinem Freundeskreis legen sogar immer mehr Aktivist_innen ihre Arbeit nieder, weil sie sich von der eigenen Szene zerfleischt fühlen.

Auch unsere Kirchen tun sich oft schwer, die paulinische Leib-Metapher in die Realität umzusetzen. Pfarrer_innen und andere Leitenden haben kaum mehr Zeit, individuell auf die ehrenamtlich Mitwirkenden einzugehen, vor allem dann nicht, wenn die Personen nicht eh schon passende Kompetenzen und Qualifikationen mitbringen. Wo, wenn nicht in der Kirche sollen Menschen fernab von Leistungsdruck und Perfektionswahn sich nach ihren Möglichkeiten einbringen können?

Dazu kommt: Ein Pfarrer, eine Pfarrerin wird oft nicht nur als ein Glied betrachtet, sondern soll am besten gleich alles können, ja, den ganzen Leib abbilden. Und auch das kann Vielfalt verhindern: Wenn einer alles tun und können soll oder will.

Wenn aber alle teilhaben, heißt das: Jede Person ist wichtig. Nicht nur die Vorzeigechristin, die Berufsgeistliche, die Kirchenleitung, der Dienstälteste, die Klügste. Nicht nur die Bilderbuchlesbe, der glücklich verheiratete Schwule, die Transperson mit dem besten Passing. Und nicht nur die Person, die super souverän mit ihrer Verletzlichkeit umgeht.

Als Menschen sind wir vor Gott immer vollständig mit unserer Leiblichkeit, unserer Sexualität, unserem Geschlecht.

Aber bezüglich unserer Gruppen und Gemeinden können wir uns hin und wieder ruhig fragen: Ist diese Gemeinschaft wirklich vollständig? Und was kann ich, können wir tun, um sie vollständiger zu machen?

Queere Menschen jedenfalls bereichern die Kirchen. Und ich glaube Christ_innen bereichern die LGBTIQ-Szenen.

In Gedanken umarme ich die Frau, die jede Nacht woanders schläft und bunte FFP2-Masken verkauft.

„Toll, dass Du Dich doch entschieden hast, Pfarrerin zu werden“, sagt sie, als mein Zug kommt und wir uns verabschieden müssen.

Aber sie wird mit ziemlicher Sicherheit nie in die Kirche kommen, zumindest ziemlich wahrscheinlich nicht. Denn ich glaube nicht, dass unsere Kirche derzeit zu dieser Frau ohne Beine und ohne Wohnung durchdringt. Wünschen tue ich es mir allerdings und dran mitarbeiten will ich!

Immer wieder erfahre ich, dass in Teams, Gruppen und Gemeinden queere Menschen oder Menschen mit Behinderungen radikaler sind, wenn es darum geht, andere in ihrer Besonderheit zu akzeptieren, viel geduldiger damit sind, anderen ihren Raum und ihre Zeit zu lassen für ihre Aufgaben. Ich denke, dies ist eine der Gaben, die wir schon mitbringen, um Gemeinschaft vielfältiger, ja vollständiger, zu machen.

Amen.

 

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Der Pride Prayer wurde organisiert von der HUG Wien und der MCC Wien. Beteiligt waren Geistliche und Ehrenamtliche aus verschiedenen Kirchen.

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