Sind Sie denn noch zu retten, Frau Wagenknecht?

Sind Sie denn noch zu retten, Frau Wagenknecht?
Matthias Albrecht
Sahra Wagenknecht ist seit September 2009 Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Im vergangenen Monat setzte DIE LINKE. Nordrhein-Westfalen die Politikerin kurz nach der Veröffentlichung ihres neuen Buches erneut auf den ersten Platz der Reserveliste für die Bundestagswahl 2021.
Skurrile Minderheiten, die sich zu Opfern stilisieren, beklagt Sahra Wagenknecht in ihrem neuen Buch. Sie unternimmt damit den Versuch, den Einsatz für die Rechte Ärmerer gegen den Einsatz für Menschen, die Diskriminierung wegen ihrer Sexualität erleiden, auszuspielen. Damit betreibt die Politikerin ein gefährliches Spiel.

"Mir muss man nicht erklären, wie sich Diskriminierung anfühlt", sagt Sahra Wagenknecht bei ihrer Rede auf dem Parteitag von DIE LINKE.NRW im letzten Monat. Mit diesen Worten wehrt sich die Bundestagsabgeordnete gegen den Vorwurf rassistisch zu sein. Diese und andere Kritik, wie etwa die, homosexuellen- und transfeindliche Haltungen zu vertreten, wird seit der Veröffentlichung ihres neuen Buches gegen die Politikerin erhoben. Grund dafür ist, dass es in dem Werk mit dem Titel Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt unter anderem heißt: "Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu lenken, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein". Dass sich "an identitätspolitischen Diskursen allerdings kaum Arme oder Geringverdiener beteiligen", das habe noch keine*n gestört. Wagenknecht suggeriert damit, dass Arme und Geringverdienende auf der einen Seite und "immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten" auf der anderen Seite miteinander um Aufmerksamkeit konkurrieren. Aber wen meint die Politikerin, wenn sie von immer kleineren und immer skurrileren Minderheiten spricht, die aus irgendwelchen Marotten den "Anspruch" ableiten, ein Opfer zu sein? Auf diese Frage findet sich in ihrem Buch die folgende Antwort: "Sexuelle Orientierung, Hautfarbe und Ethnie […] können einen zum Opfer und damit unangreifbar machen".

Sarah Wagenknecht dreht mit diesen Worten den Sachverhalt um. Nicht, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Ethnie, Homo-, Bisexualität oder Transgeschlechtlichkeit zu Opfern von Diskriminierung werden, ist nach ihr das Problem, sondern dass diese Menschen den Anspruch erheben, ein Opfer zu sein. Wagenknecht beweist mit solchen Worten, dass es ihr an Kenntnis der Situation von und scheinbar auch an Empathie für Personen mangelt, die homo- und bisexuell lieben. 560 Gewalttaten aus homo-, bisexuellen- und transfeindlichen Motiven zählte das Anti-Gewalt-Projekt Maneo im Jahr 2019 allein für das kleine Bundesland Berlin. Geschätzt 85% der Menschen, die nicht heterosexuell begehren oder die sich nicht als cis- geschlechtlich bezeichnen, trauen sich nicht, sich am Arbeitsplatz zu outen. Das Suizidrisiko von Jugendlichen, die gleichgeschlechtlich lieben, ist dreimal höher als das des Restes ihrer Altersgenoss*innen. Trotzdem erklärt die Politikerin in ihrer Parteitagsrede, ob Menschen homo- oder heterosexuell sind, das sei nicht die entscheidende Frage. Das Erleiden von Gewalttaten, welche neben physischen häufig auch psychische Erkrankungen nach sich ziehen, die ständige Angst auch nur das kleinste Wörtchen von der Person, mit der ein Mensch zusammenlebt, ja vielleicht sogar verheiratet ist, am Arbeitsplatz zu verlieren, die gesundheitlichen Schäden, die dies verursacht und die Verzweiflung, die so schwer wiegt, dass sie Jugendliche in den Tod treibt, das soll alles nicht entscheidend sein, Frau Wagenknecht? Es ist entscheidend! Es ist deshalb entscheidend, weil hier die Würde dieser Menschen angetastet wird. Und das ist mit den Ansprüchen von Gleichheit, Solidarität, Freiheit und auch mit den Werten unseres Grundgesetzes nicht vereinbar. Dies alles für nicht entscheidend zu erklären, das ist ein paternalistischer Akt, mit dem Wagenknecht neue Opfer produziert. Paradoxer Weise trägt sie damit dazu bei, dass jene Menschen zu Opfern werden, deren Legitimität ein Opfer sein zu dürfen, sie in ihrem Buch infrage zu stellen versucht, wenn sie von ihrer Meinung nach skurrilen Minderheiten schreibt, "die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein". Lange Jahre, Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte haben Menschen dafür gekämpft, dass die Verletzung ihrer Menschenwürde, die ihnen angetan wurde, weil sie homo- oder bisexuell begehren bzw. weil sie keine Cis-Geschlechtlichkeit aufweisen, überhaupt als Opfer anerkannt werden. Es ist noch nicht so lange her, da hieß es gemeinhin hier in Deutschland, wenn du eine Wohnung nicht bekommen hast, auf der Straße beleidigt oder bespuckt wurdest, weil du homosexuell empfindest, dass du es halt selbst schuld bist. Das drastischste Beispiel hierfür sind wohl die Menschen, die wegen ihrer Homosexualität in den Konzentrationslagern des Nazi-Terror-Regimes saßen und nach der Befreiung durch die Alliierten weiterhin als Kriminelle behandelt wurden. Es ist eine Errungenschaft, welche in erbitterten Auseinandersetzungen, die durch Bewegungen, Einzelkämpfer*innen, aber auch durch linke Parteien erstritten wurde, dass heute eine erhöhte Sensibilität gegenüber jenen, denen Homo-, Bisexuellen- und Transfeindlichkeit widerfährt, besteht. Diese Menschen dürfen sich heute mit Fug und Recht Opfer nennen, ohne dass es ihnen von einer breiten Mehrheit abgesprochen wird. Will Frau Wagenknecht das ernsthaft wieder zurückdrehen? Der Applaus, den die Bundestagsabgeordnete für ihre Äußerungen von rechten und reaktionären Kräften bekommt, spricht eine deutliche Sprache.

In ihrem Buch beklagt Wagenknecht: "Allem was nach linksliberalen Verständnis rechts ist, wird der Kampf angesagt: Nationalismus, Rückwärtsgewandtheit, Provinzialität, Rassismus, Homophobie, Islamophobie". Während eines Interviews mit Sandra Maischberger erklärt die Politikerin, danach befragt, was sie denn mit diesem Zitat meine, dass es einerseits einen echten Rassismus gebe, den sie klar ablehne. Auf der anderen Seite existiere aber auch das Phänomen, dass Menschen als rassistisch bezeichnet würden, weil sie bestimmte Worte benutzten und dieses Vorgehen empfände sie als falsch. Als Maischberger nachhakt, was denn dann echte und was falsche Homophobie sei, sagt Wagenknecht, dass es bei falscher Homophobie ihrer Meinung nach ebenfalls darum gehe, dass Personen Kritik ernten, weil diese bestimmte Worte verwendeten. Welche Worte sie damit meint, das lässt die Bundestagsabgeordnete offen. Sind es vielleicht die folgenden: "Schwuchtel"? "Kampflesbe"? "Schwule Sau"? "Warmer Bruder"? "Transe"? Gleich zu Beginn des Interviews versucht Wagenknecht allerdings deutlich zu machen, dass sie mit ihren Aussagen über "skurrile Minderheiten" keine Menschen meine, die wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden. Vor dem Hintergrund dessen, was sie schreibt und was sie sagt klingt das jedoch wenig glaubhaft. Insgesamt wirken ihre Äußerungen so, als wolle sie Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben, aus einer gönnerischen Haltung heraus ermahnen: Seid doch froh dass ihr, auch dank meiner Stimme, die ich im Bundestag bei der entscheidenden Abstimmung abgegeben habe, jetzt heiraten dürft, aber lasst es doch nun auch mal gut sein und wehrt euch nicht gegen jeden Begriff, der euch herabsetzt. Das Klima, das Diskriminierung schafft, das Menschen krank macht und das Lebensentwürfe zerstört, das beginnt ganz wesentlich mit der Sprachwahl. Genau das verkennt Wagenknecht. Rohe Gewalt, die in tatsächlichen Straftaten sichtbar wird, die ist nur die Spitze des Eisberges. Aber es genügt eben nicht, nur diese Spitze zu bekämpfen, wenn tatsächlich eine vollständige Gleichberechtigung erreicht werden soll. Es ist ein Fortschritt, wenn Menschen, die homosexuell begehren auf dem Weg zum Büro nicht fürchten brauchen, körperlich angegriffen zu werden, ja, dennoch bleibt es ein unhaltbarer Zustand, dass sie im Büro von Diskriminierung bedroht sind und deshalb ihre Partnerin verschweigen müssen. Und wer lernt, dass es in Ordnung ist, Begriffe zu verwenden, die andere als eine Herabsetzung ihrer Person erleben, der wird ja geradezu dazu ermutigt zu einem Weltbild zu gelangen, in dem das Gegenüber weniger wert ist. Will die Bundestagsabgeordnete wirklich diese Zustände fortführen?

Wagenknecht zeichnet ein Zerrbild der Gesellschaft. Ihre Äußerungen suggerieren, dass es auf der einen Seite ein Milieu dekadenter links-intellektueller Akademiker*innen gebe, die sich nur noch in weltenthobenen, selbstreferentiellen Diskursen verlieren und denen das Schicksal der weniger Gebildeten und Ärmeren egal sei. Auf der anderen Seite existiert, diesem Portrait nach, eine große Gruppe gesellschaftlich Abgehängter, für deren Wohlergehen sich die Akademiker*innen nicht nur nicht interessieren, sondern die von den Akademiker*innen zusätzlich auch noch durch angebliche "Sprechverbote" gegängelt werden. Allein, die Realität sieht anders aus. Sicherlich gibt es Fälle in denen Menschen ein diskriminierendes Verhalten attestiert wird, ohne dass die betreffende Person versteht, was sie falsches gesagt hat und dies dann zu Unverständnis auf beiden Seiten, also der diskriminierten und der diskriminierenden, führt. Dass die diskriminierende Person das als ein nicht nachvollziehbares "Sprechverbot" erlebt und sich dann vielleicht ihrerseits diskriminiert fühlt ist auf einer rein beschreibenden Ebene begreiflich. Andererseits ist es mittlerweile gemeinhin bekannt, dass bestimmte Begrifflichkeiten als diskriminierend erlebt werden und wer diese Worte trotzdem noch nutzen will, der muss sich dann auch Kritik dafür gefallen lassen. Wenn Wagenknecht Menschen, die es als nicht legitim erachten, für diskriminierendes Verhalten kritisiert zu werden, als Wähler*innen ihrer Partei (zurück) gewinnen will – und so verstehe ich ihre Ausführungen bei der Rede auf dem Parteitag – dann sollte sie das auch klar so benennen. Meiner Meinung nach steht es einer Partei, gerade einer wie DIE LINKE., sehr gut an zu sagen, dass sie jede Art der Diskriminierung ablehnt und damit auch bewusst hinnimmt von bestimmten Personen nicht gewählt zu werden. Allgemein wird das als das Einstehen für eine Überzeugung bezeichnet, was idealer Weise Markenzeichen jeder Partei sein sollte. Wer hingegen in allen Gewässern fischen will, der macht sich unglaubwürdig.

Diskriminierung ist übrigens keine Frage des Milieus. Diskriminierung erleiden Menschen in allen Milieus, diskriminiert wird in allen Milieus und in allen Milieus gibt es Menschen, die das nicht wahr haben wollen. Oft wird in dem Diskurs, den Wagenknecht zu führen versucht, das Beispiel von der Supermarktkassiererin bemüht. Die Angestellte wird dabei als eine Frau konstruiert, die angeblich nichts von der Verwendung des Genderstars habe. Aber mit welchem Recht wird der Kassiererin, die als potentielle Vertreterin eines prekarisierten Milieus angeführt wird, eigentlich unterstellt, dass sie kein Interesse daran habe, dass intergeschlechtliche Personen in der Sprache repräsentiert sind? Das ist eine Zuschreibung, die ihrerseits stigmatisierend ist. Außerdem gibt es Menschen, die homo- oder bisexuell lieben bzw. deren Geschlecht intergeschlechtlich ist, innerhalb jeden Milieus. Auch die Dame im Supermarkt an der Kasse kann beispielsweise mit einer Frau verheiratet sein. Und sie kann sowohl deshalb, als auch weil sie in einer schwachen beruflichen Position ist, durch ihre Chefin diskriminiert und benachteiligt werden. Vielleicht empfindet die Dame aber auch heterosexuell und ihr ist die Gleichberechtigung von Menschen unterschiedlichen Geschlechts und verschiedener sexueller Orientierungen wichtig. Wir leben schließlich und Gott sei Dank nicht in einer Gesellschaft, deren Mitglieder nur Partialinteressen verfolgen. Sicherlich gibt es einzelne Menschen, die das tun, aber ich würde dies niemals einem kompletten Milieu unterstellen wollen. Ich empfehle Frau Wagenknecht sich einmal den auf einer wahren Begebenheit beruhenden Film Pride anzuschauen. Dort haben sich Menschen in Großbritannien aus den LGBT-Bewegungen in den 1980er-Jahren mit den streikenden Bergarbeitenden solidarisiert. Im Gegenzug haben die Bergarbeitenden dann auf dem Pride in London an der Seite der LGBT-Bewegungen demonstriert und sich aus der Gewerkschaft heraus zum Beispiel für die Öffnung der Ehe eingesetzt. Ich schrieb darüber bereits einmal in diesem Blog. Das ist gelebte und zukunftsweisende Solidarität. Die Mechanismen erkennen, die Menschen in unterschiedlichsten Ausdrucksformen zu unterdrücken versuchen und sich gemeinsam gegen diese stellen, über verschiedene Milieus, Geschlechter, Sexualitäten, Herkünfte etc. hinweg. So habe ich auch immer den Anspruch linker Politik verstanden.

Was ich Sahra Wagenknecht glaube ist, dass sie tatsächlich Diskriminierung erlebt hat. In wenigen, aber eindrücklichen Sätzen beschreibt sie während ihrer Parteitagsrede, wie sie als Tochter eines iranischen Vaters wegen ihrer dunkleren Hautfarbe von den anderen Kindern in ihrem Heimatdorf in Thüringen gehänselt wurde. Was ich ihr ebenfalls glaube ist, dass sie es als tiefe Ungerechtigkeit empfindet, dass Menschen in Deutschland nach wie vor in Armut leben und sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen verdingen müssen, während andere Personen einen wirklich unanständigen Reichtum besitzen und nicht bereit sind, diesen zum Wohle der Gemeinschaft zu teilen. Ich kann sogar die in ihrem Buch zum Ausdruck kommende Frustration darüber verstehen, dass Parteien und Personen, die sich als links bezeichnen und damit Zielen wie Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde verpflichtet seien müssten, es nicht vermocht haben, hier Abhilfe zu schaffen, sondern stattdessen diese Entwicklung sozialer Ungleichheit noch befördert haben. Ja, das alles nehme ich ihr vollkommen ab. Aber die Schlussfolgerungen, die die Politikerin jetzt in ihrem Buch, bei ihren Reden und in Interviews zieht, die lehne ich entschieden ab, denn sie sind gefährlich und bringen mich dazu, Frau Wagenknecht die Frage zu stellen, die sie selbst häufig bei ihren Reden im Bundestag als rhetorisches Mittel einsetzt: Sind Sie denn noch zu retten?

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