Die CSD-Saison trudelt so allmählich aus. In zahlreichen großen und vor allem auch in kleinen Städten haben hundertausende Lesben, Schwule, Transgender, queere Menschen zusammen mit ihren wunderbaren heterosexuellen Freundinnen und Freunden dafür demonstriert, wie wichtig eine offene Gesellschaft für alle ist. Klar waren die Botschaft gegen Diskriminierung jeder Art, gegen Rassismus, gegen einen erstarkenden völkischen Nationalismus. Alles stand im Zeichen des Aufstandes einer kleiner Gruppe von Trans- und Homosexuellen gegen die ständigen Übergriffe, die Kontrolle und Schikane durch die Polizei vor 50 Jahren in der New Yorker Bar „Stonewall Inn“. Veränderung ist möglich - das ist die große und immer noch motivierende Essenz dieses Ereignisses. Dass es mühsam ist, sehr lange dauern kann und nicht ohne Rückschläge, das ist die Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Neben all der Politik gibt es den Alltag - das ist mir selbst in diesem Sommer nochmals klar geworden.
In den letzten Monaten war ich der (medialen) Dauerpräsenz des Kampfes um gleiche Rechte manchmal leid. Nicht, weil ich die Anliegen nicht mehr teilen würde. Nicht, weil ich selbst der Dauerdemonstrierer gewesen wäre. Aber ich hatte das Gefühl, dass mir im ständigen Schreiben, Denken über politische Forderungen für eine queere Community mein Leben in der Community etwas abhanden gekommen ist. Dafür gab es natürlich private Gründe, da gab es auch das Selbstbild, ich würde allmählich zu alt für die Community, für Kneipen und Festivals etc. Mein Engagement in Institutionen wie etwa der Aids-Hilfe liegt lange zurück. Manche Wünsche - wie etwa den, eine Gruppe christlicher/spiritueller schwuler Männer zu finden, wo ich mich aufgehoben fühle - ließen sich nicht realisieren. Kurzum: Dem vielen Nachdenken über all das Politische fehlte die Basis im Alltag - eine Basis, die Kraft und Motivation für den Alltag und für Künftiges verleiht.
Im Mai habe ich mich dann doch etwas getraut - und es war nicht die Trauung, denn um holde Zweisamkeit geht es mir gerade gar nicht. Ich habe an einem kostenlosen Probetraining eines Yoga-Kurses teilgenommen. Nicht irgendein Yoga-Kurs, sondern einer „für queere Ältere“, angeboten von einem queeren Sportverein in Berlin mit dem schönen Namen Vorspiel. Es galt gleich zwei Hürden zu nehmen: das Eingeständnis, unabänderlich in der Gruppe der Männer 50+ angekommen zu sein, und die Scham, aufgrund meines Körpers „irgendwie“ nicht mitmachen zu dürfen. Ich hatte es zugelassen, dass die mediale und normative Übermacht des jungen, gutgebauten, schönen Körpers anderer mich beherrschte und ich mich quasi selbst ausgeschlossen hatte von der Idee der Teilhabe, von der Idee, zusammen mit anderen Spaß beim Sport zu haben.
Ich bin sehr glücklich, den Weg zu diesen Yoga-Kursen gefunden zu haben, und bin inzwischen auch Mitglied im queeren Sportverein. Es hat sich gezeigt, dass etwas, worüber ich locker einen langen politischen Essay schreiben könnte, für mich selbst ganz unmittelbar von Bedeutung ist: die Existenz eines „Safe Space“, eines geschützten Raumes, in der man sich nicht erklären muss, wenn man nicht will, wo man angenommen und akzeptiert wird. Binnen Kurzem sind mir die anderen Teilnehmer*innen ans Herz gewachsen, obwohl wir definitiv sehr, sehr unterschiedlich sind. Nach eineinhalb Stunden gemeinsamer Yoga-Übungen gehen wir ab und zu noch gemeinsam auf ein Kaltgetränk ins Restaurant um die Ecke. Und plötzlich fühle ich die queere Community wieder - nicht nur als politisches Konstrukt, sondern als eine Form einer alltäglichen Lebendigkeit, die ich vermisst habe und die mir guttut.
Yoga ist ursprünglich eine spirituelle Praxis. In den Trend-Kursen ist das aber eher eine verschüttete Wahrnehmung. Das Spirituelle kommt freilich mitunter auf unerwartete Weise. Nach einem Kurs am Freitagnachmittag stellte sich durch Zufall heraus, dass einige der Teilnehmer abends in den CSD-Gottesdienst in der Gedächtniskirche gehen wollten. Das überraschte mich, denn so etwas wie Religion oder allgemeine Spiritualität war nie Thema gewesen. Mir wäre der Termin ziemlich sicher „entfallen“ ... umso schöner war es, spontan den Gottesdienst gemeinsam mit den Leuten aus dem Kurs und den zahlreichen anderen Besucher*innen doch noch zu besuchen und Vermisstes und Verschüttetes wiederzufinden.