Meine Überlegungen zu diesem Blogbeitrag beginnen wenige Stunden, nachdem die Nachricht um die Welt gegangen ist, dass der Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz den schweren Verletzungen erlegen ist, die ihm ein Messerstecher zugefügt hat. Der Polizei gegenüber hatte der Angreifer geäußert, er habe sich für eine seines Erachtens unberechtigte Haftstrafe wegen Raubes rächen wollen.
Ich muss an die Kölner Oberbürgermeisterin denken, der im Wahlkampf ganz Ähnliches passiert war: Am 17. Oktober 2015, einen Tag vor dem Wahltermin, wird Henriette Reker von Frank S. niedergestochen und lebensgefährlich verletzt. Der Unterschied zu Adamowicz: Reker überlebt das Attentat, braucht aber lange, um ihre Amtsgeschäfte wirklich aufnehmen zu können. Die Parallele: Auch Frank S. gibt an, aus Hass auf die Politik gehandelt zu haben.
Auch die Erinnerung an den Angriff auf Frank Magnitz, den AfD-Landesvorsitzenden von Bremen, am 7. Januar dieses Jahres stellt sich natürlich ein: Die Täter sind in diesem Fall noch nicht gefasst, aber auch hier scheint politischer Hass das ausschlaggebende Motiv gewesen zu sein.
Mitten in meinen Vorbereitungen lese ich dann auch noch den Kommentar von Nadia Pantel in der Süddeutschen Zeitung zu den Protesten der "Gelbwesten" in Frankreich: Von der Politik wahrgenommen worden seien diese erst, als die Proteste zunehmend gewalttätig geworden waren und Frankreichs Städte von Spuren der Verwüstung gekennzeichnet waren.
Ist Gewalt also wieder salonfähig geworden als Mittel der politischen Auseinandersetzung? Doch halt, in mir meldet sich das kollektive queere Gedächtnis: War sie denn jemals verschwunden aus dieser Auseinandersetzung? Gerade, wenn es um Bürger*innen- und Menschenrechte von Minderheiten geht, dann war und ist es ja traurige Realität, dass Aktivist*innen durch Hass-Verbrechen mundtod gemacht oder aus dem Verkehr gezogen werden. Die International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) untersucht seit gut 40 Jahren die Lebensbedingungen von LSBTIQs weltweit, dokumentiert Übergriffe und unterstützt queere Aktivist*innen. ILGA ist die Arbeit bis jetzt nicht ausgegangen, ja in manchen Teilen der Welt lassen sich deutliche Rückschritte im Kampf um queere Menschenrechte beobachten.
In Brasilien zum Beispiel hat zum 1. Januar mit Jair Bolsonaro ein Präsident sein Amt angetreten, der in der Vergangenheit offen gegen Minderheiten gehetzt hat - insbesondere Schwarze und Queers. Für seine Äußerung aus dem Jahr 2002 "Da diskutiere ich doch gar nicht mehr - wenn ich zwei Männer sehe, die sich auf der Straße küssen, dann schlage ich die nieder." war er sogar zu einer Geldstrafe von umgerechnet 35.000 Euro verurteilt worden. Bereits unmittelbar nach Bolsonaros Erfolg im ersten Wahlgang im Oktober lässt sich ein signifikanter Anstieg der Hass-Verbrechen gegen Queers in allen Teilen Brasiliens beobachten. Der Anwalt und Queer-Aktivist Felipe Marquezin aus São Paulo kommentiert dies mit den Worten: "Offenbar hatten sich die vorurteilsbeladenen Menschen nur im Schrank versteckt und haben jetzt ihren Coming Out." Dieses Klima der Gewalt hält seitdem an in Brasilien, immer mehr Queers denken offen über ein Auswandern nach - auch in meinem Bekanntenkreis. Andere wie Felipe Marquezin wollen sich von der neuen Rechten die errungenen Bürger*innenrechte nicht so einfach wieder absprechen lassen und kämpfen weiter.
Mitten in diese Welt hinein, in der Hass und Gewalt wieder salonfähig zu werden scheinen, tönen die Worte der Jahreslosung für das Jahr 2019: "Suche Frieden und jage ihm nach!" (Ps. 24,15). Gott verheißt uns eine friedvolle Zukunft – in der Adventszeit haben wir diese Verheißungen immer wieder gehört. Sie haben uns ergriffen, haben unser Herz mit Hoffnung erfüllt, haben uns mitgerissen in der Perspektive des Reiches Gottes, das mit dem kleinen Kind in der Krippe angebrochen ist, mit dem verheißenen Messias.
Wir leben in und aus der Verheißung des Friedensreiches Gottes. Doch auch der Psalmist weiß, dass Frieden nicht selbstverständlich ist: „Suche Frieden!“, fordert er eine jede und einen jeden von uns auf. Mit dieser Aufforderung stellt er die Frage nach der Perspektive, mit der wir auf unsere Welt und unsere Nächsten schauen. Er stellt die Frage nach unserer Lebenshaltung: Sehe ich an meinem Gegenüber immer zunächst einmal die Fehler und die Unzulänglichkeiten, das was mich Tag für Tag an dem oder der anderen nervt? Oder sehe ich die Potenziale, die in dieser Person liegen, sehe ich die Chancen, die sich für unser Miteinander bieten? Ein friedvolles Miteinander - in der Familie, im Arbeitsleben, in der Gesellschaft - wird nur gelingen, wenn ich die zweite Perspektive einnehme und die Chancen und Potenziale des Gegenübers wahrnehme. Das bedeutet, den Frieden zu suchen – und zugegebenermaßen ist das bei manch extremistischem Menschen durchaus eine Herausforderung. Doch Cem Özdemir hat völlig recht, wenn er anbetracht des Angriffs auf Frank Magnitz sagt: "Auch gegenüber der AfD gibt es keinerlei Rechtfertigung für Gewalt. Wer Hass mit Hass bekämpft, lässt am Ende immer den Hass gewinnen."
Wir müssen den Frieden also immer wieder aktiv suchen. Und nicht nur das: Gerade das Beispiel aus Brasilien zeigt, dass die Errungenschaften einer offenen Gesellschaft, der Frieden zwischen Minderheiten und Mehrheiten, ganz schnell wieder in Gefahr sein können. Frieden ist eine äußerst flüchtige Angelegenheit, „jage ihm nach!“ fordert uns daher der Psalmist auf. Wenn ich einmal erkannt habe, was dem Frieden dient, dann lohnt es sich, dies immer wieder zu beachten und für diese Werte immer weiter zu kämpfen. Es wäre falsch, wenn wir uns als Queers auf unseren Errungenschaften ausruhen und zum Beispiel hier in Deutschland übersehen, dass andere Minderheiten nach wie vor in ihren Menschen- und Bürger*innenrechten Tag für Tag in Frage gestellt werden. Frieden gelingt nur, wenn wir wirklich zu einer Lebenshaltung kommen, in der wir diesem Frieden immer wieder aufs Neue nachjagen und immer auch die Lebensperspektive der anderen suchen.
Wenn Hass und Gewalt wieder salonfähig werden als Mittel der politischen Auseinandersetzung, dann steht nichts weniger auf dem Spiel als der gesellschaftliche Frieden. Dann sind es ganz schnell wieder Minderheiten wie wir Queers, die als Ventil für politische Frustrationen missbraucht werden. Jesus von Nazareth hat das Spiel von Hass und Gewalt nicht mitgespielt, er hat den Frieden Gottes durch und durch gelebt. Sein Verzicht auf Gewalt hat ihn ans Kreuz und in den Tod geführt. Aber an Ostern ist deutlich geworden, dass Gott denen neues Leben schafft, die zu Friedensstiftern werden. Als Queers profitieren wir von dem sozialen Frieden in einer Gesellschaft - lasst uns also Tag für Tag den Frieden suchen und ihm nachjagen!
Lassen wir uns auch nicht von den Extremist*innen zurück in die Verborgenheit drängen - aber verbergen wir auch nicht, wo wir Hass und Gewalt erfahren. Dass Gregor P. im Mai 2017 nach dem Angriff, bei dem er schwer verletzt wurde, so deutlich in die Öffentlichkeit gegangen ist, hat in München eine breite Diskussion um die Bürger*innenrechte von Minderheiten ausgelöst. Eine Diskussion, die dem Frieden in der Stadt gedient hat!