Die Bibel ist voller kluger Sätze und Sprüche zum Thema Gerechtigkeit - inklusive viel Trost, wenn’s damit nicht so klappt auf Erden. Ein für die Kirchen nicht unproblematisches Kapitel ist die Verfolgung von Homosexuellen nach 1945 aufgrund des §175. Es ist ein Unrecht, in das man geschichtlich verstrickt ist - und sei es "nur" in dem Sinne, dass man einst ein Klima befördert hat, das anderen (und es sind ja immer die anderen!) Denunziationen, Kriminalisierung und Verrat ermöglicht hat.
In der letzten Woche wurde ein Gesetzentwurf von Bundesjustizminister Heiko Maas zur Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten Homosexuellen vom Regierungskabinett gebilligt. Darüber wurde auch hier auf evangelisch.de berichtet. Die Chancen stehen gut, dass das Gesetz noch in dieser Wahlperiode vom Bundestag verabschiedet wird.
So sehr der Gesetzentwurf zu begrüßen ist, so sehr verfehlt er in einem wichtigen Punkt die Chance, Folgen der Unrechtsjustiz der für Homosexuelle sehr langen Nachkriegszeit anzugehen. Richtig ist, dass - auf Antrag des einst Verurteilten oder dessen Angehörigen - endlich die Urteile aufgehoben und aus den Akten gelöscht werden. Ich denke, für die allermeisten der Betroffenen ist dies auch der wichtigste Aspekt. Richtig ist, dass Verurteilte eine individuelle Entschädigung erhalten. Richtig ist, dass es eine "kollektive Entschädigung" gibt.
Kritisch zu hinterfragen bleibt die Höhe der individuellen Entschädigung. Einst Verurteile können einmalig 3.000 Euro sowie 1.500 Euro pro Jahr Freiheitsentzug erhalten. Angehörige und Hinterbliebene haben kein Recht auf diese Entschädigung. Kritisch zu hinterfragen bleibt aber auch die "kollektive Entschädigung". Als eine solche wird eine bereits beschlossene jährliche Finanzierung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld in Höhe von einer halben Million betrachtet. In diesem Zusammenhang wird auf deren Projekt "Archiv der anderen Erinnerungen" hingewiesen, in dem Schicksale Verfolgter dokumentiert werden. Ein hinsichtlich Aufarbeitung und Aufklärung wichtiges Projekt, das hoffentlich in enger Kooperation mit entsprechenden lesbisch-schwulen Institutionen, die dies schon sehr viel länger tun, umgesetzt wird. Doch man fragt sich, ob Betroffenen darüber hinaus nicht zusätzlich und auf andere Weise geholfen werden könnte. In einem Kommentar zu meinem Beitrag "Die Zeit drängt" vom September letzten Jahres hat ein Leser "Titus" darauf hingewiesen - wie auch im Dezember 2016 die Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS). In einer Stellungnahme zum Gesetzesentwurf heißt es:
"Eine Kollektiventschädigung soll der Sicherstellung von Projekten für ältere schwule Männer im Bundesaltenplan und von anderen Projekten, für die älteren Generationen schwuler Männer dienen. Durch Modellprojekte sollen zum Beispiel umfassende Konzepte für eine kultursensible und biografieorientierte Versorgung, Pflege und Begleitung von LSBTI, deren Integration in Aus- und Weiterbildung sowie Organisations- und Personalentwicklung in der Altenhilfe und Altenpflege, für die Entwicklung von Wohnprojekten für ältere schwule Männer bzw. LSBTI sowie Teilhabe und Partizipation älterer schwuler Männer bzw. LSBTI gefördert werden."
Eine "kollektive Entschädigung" muss zuerst bei denen ankommen, die sie jetzt gleich wie auch künftig brauchen: den schwulen (alten) Männern, den lesbischen (alten) Frauen. Mit ihr könnten aber auch nachhaltig Strukturen geschaffen werden, die später den jetzt jungen Homosexuellen, Bisexuellen, Transgender zugutekämen. Darüber hinaus ist "kultursensible und biografieorientierte Versorgung" ein Thema, das generell den Umgang mit unterschiedlichen Gruppen betrifft und in den nächsten Jahrzehnten in einer pluralisierten Gesellschaft immer wichtiger werden wird.
Das Fehlen sozialer Versorgungsstrukturen ist eben auch in der Zerstörung homosexuellen Lebens in der Nazi-Zeit und der Unterdrückung des Aufbaus in der sehr langen Nachkriegszeit begründet. Eine "kollektive Entschädigung" sollte hierauf reagieren. Es gibt längst Ansätze in Pflege und Wohnformen, die von engagierten Gruppen der Community realisiert werden. Ihre Arbeit zu stärken wäre eine - kollektiv gesehen - gute Entscheidung.
Für Homosexuelle ist das Gesetz zur Rehabilitierung von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Zuallererst, weil den aufgrund eines Unrechtsparagrafen Verurteilten ein wenn auch später Versuch der Wiedergutmachung zuteilwird. Für die heute Jungen ist es ein Grund, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden. Nicht nur hinsichtlich eines politischen Bewusstseins und Engagements, Verfolgung ein für allemal Geschichte bleiben zu lassen, sondern auch hinsichtlich eines sozialen Miteinanders. Die Rehabilitierung der aufgrund des §175 Verurteilten erinnert neben dem menschlichen Leid daran, wie das Leben von Homosexuellen bis heute von diesen Folgen bestimmt wird. Ehe ist eine schöne Sache. Sie ist aber nicht alles! Die Diskussion darüber verdeckt allzu oft die größere Dimension von Gemeinschaft, von Solidarität, von gesellschaftlicher Teilhabe, von der Notwendigkeit der Fürsorge und der Vorsorge.
Gerechtigkeit ist nicht nur ein einzelner Akt, sie ist eine immerwährende Aufgabe, eine Arbeiten daran, dass es auch künftig gerecht oder zumindest gerechter zugeht. Die Bibel kennt viele Stelle zum Thema. Wie wär’s mit dieser? "Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach, füreinander und für jedermann." (1. Thessalonicher 5,15)