Die Regierungszeit Putins ist ihm "ein Wunder Gottes". Die gleichgeschlechtliche Ehe dagegen "ein sehr gefährliches apokalyptisches Symptom". Kyrill, der Patriarch Moskaus, Vorsteher der russisch-orthodoxen Kirche und enger Vertrauter des russischen Präsidenten, ist um sprachlichen Bombast nicht verlegen. Ebenso wenig sein Sprecher Wsewolod Tschaplin. Der hatte Anfang 2014 ein Referendum über die Wiedereinführung von Strafen für homosexuelle Handlungen gefordert mit dem Zusatz, er sei für eine vollständige Eliminierung homosexueller Kontakte in der Gesellschaft! Das ist kein kalter, sondern ein sehr heißer Krieg, der es nicht bei dem 2013 eingeführten Gesetz belassen will, das "homosexuelle Propaganda" verbietet und das seitdem konsequent zur Ausschaltung schwul-lesbischer Gruppen und Zurückdrängung von Homo- wie Transsexuellen aus dem öffentlichen Raum genutzt wird. Kyrill zeichnet maßgeblich mitverantwortlich für diese Situation.
Doch von all dem war nicht die Rede, als es letzte Woche zum "historischen" Treffen von Papst Franziskus und Kyrill in Havanna kam. Weder in der Meldung über den "Bruderkuss" der beiden Kirchenführer noch in der Einschätzung des Ökumene-Experten. Ein wenig verwundert darf man schon sein über den hohen Abstraktionsgrad, der sich so ganz aufs Theologische konzentriert und die konkrete Menschenrechtslage - beileibe nicht nur die Situation von Homosexuellen - mal eben übersehen kann. Oder war es einfach vornehme Zurückhaltung gegenüber den christlichen Mitbewerbern?
Im Deutschlandfunk gab es einen guten, abwägenden Kommentar von Andreas Main, der - im Zusammenhang mit der Kriegspolitik Russlands - nach den Implikationen des Treffens fragt. "Hat Franziskus mit diesem Treffen in Havanna den russischen Präsidenten und dessen Kriege stabilisiert? Dass er das bewusst wollte, ist auszuschließen. Dass das indirekt ein Kollateralschaden seines Treffens mit dem russischen Patriarchen Kyrill werden könnte, ist nicht auszuschließen. Denn Wladimir Putin, dessen Propagandamaschinerie geschmiert läuft wie selten, wird dieses historische Treffen ausschlachten."
Freilich verteidigt Andreas Main den Papst gegen den Vorwurf, die Begegnung sende "illiberale, autoritäre Signale" nach dem Motto "Es gibt mehr als diese schwächelnden liberalen Rechtsstaaten westlicher Prägung. Eine Position, die zurzeit gut ankommt. Egal ob in Russland, der Türkei oder bei Pegida, AfD & Co." Letztlich seien die Bemühungen auf Überwindung eines tausendjährigen Konfliktes gerichtet: "Eine Politik des langen Atems ist stärker als kurzatmiges Politik-Gehechel." Und eine solche könne "zum Vorbild werden für eine ähnliche Einigung mit den evangelischen Kirchen".
Welchen Preis muss wer für eine Einigung zahlen? Wo es um die ganz großen Fragen wie Krieg und/oder Ökumene geht, müssen da die einzelnen Schicksale hinten anstehen? Muss eine Verfolgung von Christen, etwa in Syrien, thematisiert werden um den Preis des Verschweigens von Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land? Wo sich zwei Kirchenführer - wie es in der gemeinsamen Erklärung zur Begegnung Franziskus/Kyrill geschieht - zu Opfern eines "aggressiven Säkularismus" machen, muss da die alltägliche Verfolgung von Homosexuellen in Russland unter Mithilfe einer aggressiven Kirche ein zu vernachlässigendes Randphänomen bleiben?
"Take me to church" ist ein Titel des irischen Sängers Hozier. Er wurde letztes Jahr von Martin Vorländer, evangelischer Pfarrer und mittlerweile Redakteur im Medienhaus der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, im "Deutschlandfunk" ausführlich besprochen. Das Video verortet den Song in einem homosexuellen Kontext. Es zeigt, wie ein schwuler Mann von einer Schlägerbande gejagt wird. Er versucht, ein Schatzkästchen zu verstecken. Es misslingt, die Schläger finden es und werfen es auf einen Scheiterhaufen. "Der Sänger Hozier sagt, es gehe ihm nicht allein um die katholische Kirche. Er wollte zeigen, wie Religionen, aber auch ganze Gesellschaften giftig werden, wenn sie ihre Macht missbrauchen. Der Musiker mit der souligen Stimme sieht, wie im Putin-Russland Lesben und Schwule diskriminiert werden."
Mag sein, dass es in einem Popsong nicht um die ganz großen theologischen Fragen geht. Aber mit seiner unveränderten Aktualität, mit seinen Zweifeln und selbst der Verzweiflung lenkt er plötzlich wieder auf die Ebene, die ein medial als "historisch" verklärtes Treffen eben vergessen machen wollte. Er verweist auf ein unruhiges Leben, über dem gelassen die große Geschichte inszeniert wird.