Que(e)r gelesen: Jakobs Kampf am Jabbok

Que(e)r gelesen: Jakobs Kampf am Jabbok
Silhouetten von zwei kämpfenden Männern bei Sonnenuntergang.
Foto: Getty Images/iStockphoto/Djordje_Stojiljkovic
Eine que(e)re Bibelexegese re-interpretiert traditionelle Bibelauslegungen. Biblische Texte werden quer gebürstet und homoerotische Spuren werden aufgespürt, kontextualisiert und gedeutet. Einige Autor_innen sprechen in diesem Zusammenhang vom „hermeneutischen cruising“.

Ich stelle in meinem Blogeintrag heute eine que(e)re Re-Lektüre zur biblischen Geschichte von Jakobs Kampf am Fluss Jabbok vor
(1. Buch Mose 32, 23 - 33).

Zum Hintergrund:
Jakob, der Sohn von Rebekka und Isaak lebte in Beerscheba, einer Stadt in Kanaan, im heutigen Israel. Er hatte sich durch eine List den Erstlingssegen von seinem Vater ergaunert. Eigentlich hätte dieser Segen nach damaliger Tradition seinem zuerst geborenen Zwillingsbruder Esau zugestanden. Aber Jakob wollte den Erstlingssegen unbedingt haben. Denn daran hing Macht, Existenzsicherung und Gottes Schutz.
Mit Hilfe seiner Mutter Rebekka überlistete Jakob seinen Vater Isaak und überzeugte ihn, dass er Esau sei. Jakob bekam den Segen vom Vater zugesprochen (1. Buch Mose 27,28 f.).

Als sein Zwillingsbruder Esau von dem Betrug erfuhr, drohte er damit, Jakob zu erschlagen. Jakob musste fliehen und reiste zu seinem Verwandten Laban von Beerscheba nach Aram ins Land der Aramiter. Dort arbeitete er insgesamt 14 Jahre für Laban und bekam in einer polygam organisierten Großfamilie mit seinen zwei Frauen Leah und Rahel und seinen Mägden Bilha und Silpa insgesamt zwölf Söhne (1. Buch Mose 29,1-30,24). Danach verließ er Laban mit seinen Frauen, Kindern, Mägden und seinem gesamten Herdenbestand wieder (1. Buch Mose 31).

Als Jakob den Rückweg in seine alte Heimat nach Kanaan antrat, wurde ihm bewusst, dass er dort vermutlich wieder auf seinen Bruder Esau treffen würde. Daraufhin sandte er Boten aus, um sich anzukündigen. Die Boten kamen zurück und berichteten, dass Esau ihm bereits mit 400 Mann entgegen kam. Da bekam Jakob Angst um sein Leben. Er teilte seine Familie, seine Arbeiter und Mägde, Schafe, Ziegen und Kamele in zwei  Herden auf und schickte sie in unterschiedliche Richtungen davon, um zumindest einen Teil seines Besitzes vor dem befürchteten Angriff seines Bruders schützen zu können. Jakob gab den beiden Anführern seiner Herden jeweils eine große Anzahl von Geschenken für Esau mit, um ihn zu beschwichtigen. Er selbst blieb zurück und verbrachte die Nacht am Fluss Jabbok.

In der Nacht überraschte ihn ein Unbekannter. Der Fremde kam aus dem Nichts. Jakob wusste weder, wer er war noch woher er kam. Sie kämpften die ganze Nacht miteinander (1. Buch Mose 32, 23-33). Keiner der beiden gewann den Kampf, aber es verlor ihn auch keiner. Zum Ende hin verletzte der Fremde Jakob so sehr am Hüftgelenk, dass Jakob für den Rest seines Lebens humpeln musste. Jakob schrie den Fremden an, dass er ihn nicht loslassen würde, bevor der ihn nicht segnete. Der Andere fragte Jakob stattdessen nach seinem Namen und gab ihm einen neuen Namen „Israel“ („Gottesstreiter“). Seinen Namen gab der Fremde nicht preis, aber er segnete Jakob.

In traditionellen Auslegungen wird davon ausgegangen, dass Jakob mit Gott selbst gekämpft hat und dass der vorher erschlichene Erstlingssegen durch Gottes Segen anerkannt wird. Jakob geht aus dem Kampf gestärkt für die Begegnung mit Esau hervor. Das ist für traditionelle Bibelauslegungen wichtig, denn Jakob gilt - genauso wie Abraham und Isaak - als Ahnherr des Davidischen Geschlechts und damit als Ahnherr von Jesus.

Eine que(e)re Re-Lektüre dieser Bibelstelle rekonstruiert aus dieser Geschichte noch eine andere Spur: Jakob kämpft eine ganze Nacht mit einem fremden Menschen. Jener wird im biblischen Text als unbekannter Mann vorgestellt. Die Theologin Susannah Cornwall bezeichnet den anschließenden Zweikampf als (homo-)erotisch. Die beiden Männer wälzen sich im Matsch und kämpfen körperlich miteinander. Der Kampf hat ein offenes Ende und bleibt ohne Sieger. Dennoch oder gerade deswegen wirkt die körperliche Begegnung verstörend und zutiefst existentiell. Der Unbekannte bleibt geheimnisvoll und jenseits einer zuweisbaren Geschlechtsidentität oder Rollendefinition. Obwohl der Fremde als Mann eingeführt wird, wirkt er in seiner unbestimmten Erscheinung als ein Wesen jenseits dualistischer Geschlechterkategorien.

Auch in der que(e)ren Bibelauslegung wird der Unbekannte mit Gott identifiziert.
Gott erscheint in dieser Szene allerdings nicht als der Abwesende, Distanzierte, ewig Unberührbare, wie er in theologischen Lehrsätzen oft dargestellt wird, sondern er tritt auf als der Nahbare. Gott wird körperlich spürbar und macht sich verletzlich, obwohl er gleichzeitig geheimnisvoll bleibt. Die Re-Lektüre zeigt einen Gott, der sich schmutzig macht, sich im Dreck wälzt und in körperlicher Weise einem anderen Mann begegnet.

In der traditionellen Exegese wird Jakobs Kampf mit Gott am Jabbok unter anderem psychologisch als innerer Kampf gegen Schuld- und Schamgefühle ausgelegt; also als Reise nach innen, als Kampf gegen die eigenen dunklen Seiten, als Kampf gegen Gefühle von Wertlosigkeit und Verzagtheit. Dieser Prozess ist kein einfacher linearer Weg, sondern ein Prozess auf Leben und Tod; mit Unterbrechungen, Umwegen, Krisen, schweren Kämpfen und Bedrohungen. Und Jakob überlebt diesen Kampf.

Aus que(e)rer Perspektive kann auch jeder Coming-out-Prozess von Lesben und Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen als körperlicher, geistiger und seelischer Kampf um ein Leben in Würde und Anerkennung gesehen werden. Es ist ein Kampf mit genormten Werten in einem (hetero-)normativen Umfeld. Und es ist ein Ringen um Respekt und Gottes Segen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.

Vor diesem Hintergrund zeigt sich in dieser biblischen Geschichte ein Gott, der ganz anders ist. Er überschreitet Grenzen und zwingt auch Jakob Grenzen zu überschreiten. Dieser Gott ist nicht männlich, nicht weiblich. Er lässt sich körperlich berühren und berührt selbst. Dadurch sprengt er die dualistisch angeordneten Kategorien von Normalität und Abweichung, Körper und Geist, Subjekt und Objekt. Und als der Morgen anbricht, segnet Gott den Jakob.

 

Zum Weiterlesen:

Cornwall, Susannah: Wild Rice and Queer Dissent, in: Isherwood, Lisa u.a. (Hg.): Wrestling with God, Leuven 2010, S. 61-75.

Söderblom, Kerstin: Kämpfen mit einem queeren Gott? Aspekte einer queeren Theologie, in: Christian Schmelzer (Hg.), Gender Turn. Gesellschaft jenseits der Geschlechternorm, S. 173 - 187.

weitere Blogs

Warum Weihnachten hinter einer Mauer liegt und was sie überwinden kann.
In einer Kirche hängt links neben dem Altar ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift No pasar - Überholverbot - no passing
In Spanien gibt es ein Überholverbot am Altar.
G*tt ist Körper geworden. Was für eine Gedanke! Birgit Mattausch geht ihm nach.