Tiefer als gedacht

Tiefer als gedacht
Foto: Matthias Albrecht
In seinem Werk "Die männliche Herrschaft" entfaltet Bourdieu seine Konzepte des Habitus und der symbolischen Gewalt im Geschlechterverhältnis.
Obwohl viele Lesben und Schwule ihre sexuelle Identität bejahen und offen damit umgehen, können sie sich dennoch nicht frei von tiefsitzenden Scham- und Schuldgefühlen machen. Worin liegt die Ursache für diese Empfindungen?

Wer mit der Gabe gleichgeschlechtlicher Liebe gesegnet ist, steht in seinem Leben häufig vor der Situation, der Umwelt, die in der Regel jedem Menschen erst einmal Heterosexualität unterstellt, mitzuteilen, dass dies bei ihr oder ihm nicht zutrifft. Also dass er nicht in die nette neue Kollegin verliebt ist, sondern wenn überhaupt, in den netten Kollegen oder sie nicht zusammen mit einer Freundin ausgeht, um sich gemeinsam nach Jungs umzuschauen, sondern dass Sie mit ihrer Freundin ausgeht und die zwei sich dabei lieber gegenseitig anschauen. Glücklicher Weise fällt dieser Schritt heute – zumindest im deutschsprachigen Raum – vielen, wenn auch längst nicht allen, leichter als etwa noch vor zwanzig Jahren. Scheinbar machen immer mehr Menschen aus ihrer homosexuellen Identität keinen Hehl mehr. Trotzdem höre ich oft von Lesben oder Schwulen, dass es immer noch irgendwie unangenehme Gefühle hervorruft, händehaltend mit der Partnerin durch die Stadt zu gehen, dem Partner beim Kirchenkaffee einen Kuss zu geben oder in der Mittagspause vom gemeinsamen Wochenende zu berichten. Was ist es, dass Menschen, die ihre Homosexualität bejahen und auch öffentlich nicht verleugnen wollen, solche Emotionen empfinden lässt und sie sogar von Verhaltensweisen abhält, über die sich heterosexuell Liebende gar keine Gedanken machen?

Eine Antwort bietet das Habituskonzept des Soziologen Pierre Bourdieu. Ich habe mich bereits in meinem letzten Blogbeitrag kurz darauf bezogen. Bourdieu geht davon aus, dass wir in den meisten Bereichen unseres Lebens nicht jedes Mal grundsätzlich neu darüber entscheiden, wie wir handeln, die Dinge deuten oder gefühlsmäßig zu einer Sache stehen. All das ist dauerhaft in unserem Habitus verankert. Vor jeder bewussten Überlegung bestimmt der Habitus bereits die grundsätzliche Richtung unseres Fühlens, Denkens und Handelns. Das gilt besonders auch für die geschlechtliche Identität. Ein Beispiel: Betreten wir ein Bekleidungsgeschäft, können wir uns dort in der Regel, haben wir genug Geld zur Verfügung, jede der angebotenen Waren kaufen. Trotzdem macht kaum ein Mensch von dieser Möglichkeit Gebrauch. Intuitiv wissen wir, welche Garderobe für Frauen und welche Garderobe für Männer vorgesehen ist und schließen das, was nicht zu unserem zugewiesenen Geschlecht passt, ganz ohne nachzudenken kategorisch von unserer Auswahl aus. Das heißt nicht, dass wir nicht das Gegenteilige tun könnten, aber wir tun es eben nicht, unser Handlungsraum ist eingeschränkt. Durch unsere habituellen Prägungen oder wie Bourdieu es nennt, habituellen Dispositionen, sind uns die Regeln, Vorschriften, Werte und Normen der Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes, in Fleisch und Blut übergegangen.

Dieser Verinnerlichung können wir uns am besten dort gewahr werden, wo wir sie bewusst spüren. Das geschieht immer dann, wenn unser Verhalten nicht dem gesellschaftlich Erwünschten entspricht. Wie würde es sich für einen Menschen, der als Mann wahrgenommen werden will, anfühlen, zwei, drei Stunden in einem Damenrock am Samstagmorgen durch die Innenstadt zu gehen? Schon allein der Gedanke daran, lässt für die allermeisten Anklänge von Scharm, Angst und Abscheu aufkommen. Diese Emotionen bezeichnet Bourdieu als Ordnungsrufe. Wie funktionieren solche Ordnungsrufe? Der Habitus bestimmt den Raum, in dem Handeln für uns möglich ist. Überschreiten wir diese Grenzen, dann werden wir hierfür sanktioniert. Das heißt die Blicke, die Gesten, das Getuschel oder das kaum merkliche Verziehen der Gesichter, auf das der Mann, der den Rock trägt, trifft, findet in dessen Habitus eine Resonanz. Diese Reaktionen erinnern ihn unmissverständlich daran: „Du tust hier etwas, das Du nicht tun darfst!“ Der Mann erleidet symbolische Gewalt. Bourdieu meint mit diesem Konzept eine sanfte Form der Gewalt, die für diejenigen, die sie erleiden, allerdings nicht minder schmerzhaft ist als physische Gewalt. Anschaulicher formuliert: Wir können uns vorstellen, dass die Blicke, denen unser Mann in der Innenstadt begegnet, ihm genauso harte Schmerzen zufügen wie eine Faust, die direkt in seinen Magen boxt.

Was hat das nun mit der Situation homosexueller Menschen zu tun? Schon früh im Leben sind wir uns gewiss, welche Sexualität zu einer echten Frau beziehungsweise zu einem echten Mann gehört und welche nicht. Dafür ist kein Unterricht nötig. Als Kind merken wir, wie unsere Eltern peinlich berührt reagieren, wenn im Fernsehen zwei küssende Frauen gezeigt werden, wir hören, ohne die eigentliche Bedeutung zu kennen, den Ausdruck „schwul“ immer wieder als Schimpfwort oder bekommen Witze über Homosexuelle mit. Noch viel entscheidender ist allerdings das, was wir nicht mitbekommen, nicht sehen und nicht erleben. Nirgends in den Kinderbüchern findet eine Prinzessin ihre Prinzessin. Malen unsere Eltern Bilder unserer Zukunft, erscheinen dort nie Partner_innen gleichen Geschlechts. Wenn wir in der Schule über Liebe sprechen, dann ausschließlich über die zwischen Frau und Mann. Diese Sozialisation bewirkt die Verinnerlichung eines Habitus, der Heterosexualität als alternativlose Norm in uns einprägt. Das heißt, unabhängig von unserer gottgegebenen sexuellen Identität sind wir im Fühlen, Denken und Handeln heteronormiert.

Diesem heteronormierten Habitus können wir nicht entkommen. Alle noch so willensstarken Vorsätze, die besten Tipps der lesbischen und schwulen Ratgeberliteratur, das intensivste Coming-out-Beratungssetting kann nicht darüber hinwegtäuschen. Rein kognitiv können wir also den legendären Ausspruch Klaus Wowereits „Ich bin schwul und das ist auch gut so“ (oder eben die lesbische Variante davon) gebetsmühlenartig wiederholen, doch den ersten Zugriff auf das, was wir fühlen, haben die in der Tiefe unseres Habitus verankerten heteronormativen Dispositionen. Hundertmal kann sich die lesbische Frau innerlich darauf berufen, ich bin gut so wie ich bin, das milde Lächeln ihrer Arbeitskollegin, wenn diese das Bild der Lebenspartnerin auf dem Schreibtisch sieht, wird sie trotzdem treffen. Der schwule Mann kann noch so vor Selbstbewusstsein strotzend Hand in Hand mit seinem Partner zum Kirchenkaffee gehen, schon eine leicht hochgezogene Augenbraue lässt es ihm – auch wenn er es nicht zeigt – heiß und kalt den Rücken runterlaufen. Unweigerlich werden wir immer wieder aufs Neue gemahnt: Du sollst heterosexuell sein! Viele wollen und können, weil das so weh tut, daran nicht ständig erinnert werden. Deshalb versuchen sie Situationen, in denen symbolische Gewalt ausgeübt werden könnte zu vermeiden. Lieber nicht Hände halten, lieber nichts von daheim erzählen, lieber kein Bild der Personen, die mensch liebt, auf den Schreibtisch stellen. Aber auch mit dieser Lösung fühlen sich die meisten letztlich nicht wirklich wohl. Kein Wunder, da sie damit ja nicht der symbolischen Gewalt entkommen, sondern sie nur antizipieren.

Heißt das nun, dass wir unseren habituellen Dispositionen hilflos ausgeliefert sind? Ist kein Entrinnen, kein Widerstand, keinerlei Veränderung möglich? Auf diese Fragen, die nun vielleicht unter den Nägeln brennen, werde ich in meinem nächsten Eintrag, der in zwei Wochen am 29. Mai in diesem Blog erscheint, eingehen.

 

Für alle, die nicht so lang warten wollen, zwei Literaturtipps:

Bourdieu, Pierre. (2005). Die männliche Herrschaft (1. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Schmidt, Robert (Ed.). (2008). Symbolische Gewalt. Theorie und Methode?; [48]?: Sozialwissenschaften. Konstanz: UVK-Verl.-Ges.

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