„Gott ist auch queer!“ Die Theologin Sabine Bobert über Mystik und Spiritualität

„Gott ist auch queer!“ Die Theologin Sabine Bobert über Mystik und Spiritualität
Sabine Bobert
Foto: Kai Abresch, Berlin
Die Theologin Dr. Sabine Bobert forscht unter anderem zu postmoderner Spiritualität und Mystik.
Die Frühjahrstagung der HuK (Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche) widmet sich am kommenden Wochenende unter dem Titel „Veni sancte Spiritus“ den Themen Spiritualität und Mystik. Dazu wird auch Sabine Bobert, Professorin für praktische Theologie, einen Vortrag bzw. Workshop halten.

Von den Pilgerwegen erreichen uns Staumeldungen, spirituelle Rückzugswochen bei Wasser und Brot in der Klosterzelle sind Monate im Voraus ausgebucht. Liegen Spiritualität und Mystik gerade voll im Trend?

Sabine Bobert: Ja, Menschen suchen zunehmend die direkte Gotteserfahrung. Es genügt ihnen nicht mehr, von Gott zu hören oder über Erfahrungen früherer MystikerInnnen mit Gott zu lesen. Zudem wird durch die Meditationsforschung deutlich, dass mystische Übungen gar nicht so irrational sind, wie sie in einem rationalen Zeitalter erscheinen. Meditationsübungen führen Menschen zu einer gesunden Balance gegenüber äußeren Anforderungen. Sie machen gesund und fördern die Persönlichkeitsentwicklung.

Können Sie kurz beschreiben, was Spiritualität meint?

Sabine Bobert: "Spiritualität" kommt vom lateinischen "spiritus" wie bei "spiritus sanctus": "Heiliger Geist". "spiritus" heißt "Geist" oder heute verständlicher "Bewusstsein". Spiritualität dient unserer Bewusstseinsentwicklung. In der Evolution haben wir noch längst nicht unseren Entwicklungshöhepunkt erreicht. Einzelne MystikerInnen oder auch Jesus, der uns vom Ziel der menschlichen Entwicklung her entgegen gekommen ist, markieren unser volles Potenzial. Dorthin geht unser aller Entwicklung. Spiritualität dient also der Persönlichkeitsentwicklung im Vollsinn. Unser Bewusstsein kann so klar werden, und dadurch so wahrnehmungsfähig, dass räumliche und zeitliche Grenzen für uns nicht mehr gelten. Dann wird alles, was ist, zur reinen Information. Für mich sind die Aussagen des Neuen Testaments keine Mythen, sondern Beschreibungen voll entwickelter Menschen und ihrer Fähigkeiten.

Und wie lässt sich davon Mystik abgrenzen?

Sabine Bobert: Das Wort Spiritualität verweist inzwischen auf Körperübungen, Töne, Visionssuche und vieles andere. Mystik speziell möchte Menschen zeigen, wie sie sich mit Gott (oder mit dem "Seinsgrund", mit der höchsten und klarsten Bewusstseinsschicht) vereinigen. Die klassische Mystik führt Menschen über die Stufen "Reinigung", "Erleuchtung", "Vereinigung" zu einem Leben in dieser höchsten, klarsten Bewusstseinsschicht, die wir "Gott" nennen. Ich nenne diese Stufen heute "Coaching", also Selbstklärung des eigenen Geistes; "Heilung", wenn wir durch die Verbindung mit unserem Wahren Selbst heil und ganz werden und von ihm inspiriert, erleuchtet werden, und "Mystik", wenn wir erkennen: Alles ist Bewusstsein, in unterschiedlicher Form; Trennungen entstehen nur durch unsere Konzepte. Ich möchte Menschen wieder zu einer lebendigen Mystik führen und dabei die heutigen Lebensbedingungen berücksichtigen.

Das klingt nach Abwendung vom gemeinsamen Gottesdienst, von Gesellschaft insgesamt ...

Sabine Bobert: Das wurde der Mystik in abgewandelter Form schon immer vorgeworfen. Die katholische Kirche war ehrlich, als sie den MystikerInnen im 17. Jahrhundert und bei weiteren Verfolgungen vorwarf: Ihr verachtet die kirchliche Hierarchie, ihre Priester und ihre Sakramente. Die Kirche erkannte damals klar den basisdemokratischen Impuls und die Gefahr, dass die Basis sich direkt mit Gott verbindet - und dann auch infrage stellen wird, was von erfahrungsarmen Theologen über Gott behauptet wird.

Ist Mystik also Selbstoptimierung im stillen Kämmerlein mit elitärem Touch?

Sabine Bobert: Jeder Mensch ist auf die mystische Vereinigung mit Gott hin angelegt. Etwas Elitäres hat aus meiner Sicht die Theologie daraus gemacht, als sie behauptete, dass mystische Erfahrungen eine besondere Gottesgnade seien, die Gott nur manchen schenken will, wenn es ihm gefällt. Stellen Sie sich vor, jemand behauptet, Klavierspielen sei eine besondere Gottesgnade, die Gott nur manchen schenken will. Dann fängt doch keiner an zu üben!

Jeder Mensch ist ein potentieller Mystiker, eine Mystikerin. Ich wünsche mir, dass die Bewusstseinsentwicklung, auf die Mystik für die Menschen zielt, integraler Bestandteil eines allgemeinen Bildungskonzeptes wird. Die Kompetenz, eigene Bewusstseinsprozesse wahrnehmen und steuern zu können, sollte bereits in den Schulen gefördert werden.

In Ihren Workshops lehren Sie Techniken, um spirituelle Erfahrungen zu machen. Macht es da einen Unterschied, wenn Sie mit einer Gruppe von Schwulen und Lesben arbeiten?

Sabine Bobert: Ja, vor allem aufgrund der kirchlichen Diskriminierung, die Schwule und Lesben noch teils bis in die Gegenwart hinein erfahren. Sie können noch immer nicht überall geoutet als Paar im Pfarrhaus leben und damit das evangelische Familienmodell ergänzen. Und die Religionsbücher stellen lesbische, schwule und vor allem queere Lebensmöglichkeiten und Regenbogenfamilien bislang maximal als Randerscheinung mit dar. Auch an theologischen Fakultäten gibt es noch immer Studierende, die queeren MitstudentInnen androhen, für ihre Lebensführung in der Hölle zu landen. Zum Glück ist das nicht mehr die kirchliche Norm. Aber es braucht viel Zeit, bis alte Wunden heilen. Und bis wir ein Gottesbild entwickelt haben und biblische Textauslegungen, die gay pride und queere Lebensmöglichkeiten und Familienformen wertschätzen und stärken.

Gibt es eine schwule / lesbische, eine „queere“ Spiritualität bzw. Mystik?

Sabine Bobert: Mystik ist aus meiner Sicht die große Befreiung. Ich vertrete eine christliche bildlose Mystik, die uns zunächst so radikal wie Zen von allen Gottesbildern und Menschenmeinungen über Gott und über uns selbst befreit. Mystik ist eine große Befreiungsbewegung. Meine Mystik denkt und lebt Gott und menschliche Autonomie und Emanzipation im Ansatz zusammen. Ich liebe Meister Eckarts Satz: "Wir müssen Gott los werden (im Sinne aller Gottesbilder), um Gott zu finden." Eine bildlose Mystik wirft alles, was uns Gott und Religion auf einem queeren Lebensweg zur Last macht, auf den Müllhaufen, als reine Menschengedanken.

Gott ist auch queer. Er/Sie/_* lebt in uns ein queeres Leben und liebt in uns queer. Wieso sollten wir Gott anders denken als in der Weise, in der er/sie/_* in uns selber lebt? Gott liebt die Pluralität, das macht er ja schon als trinitarischer Gott deutlich. In uns Menschen hat er sich noch weiter diversifiziert, um in uns zur Multität zu werden. Wer die vereinheitlichen will, lästert Gott. Das ist für mich der Ansatz zu einer queeren Spiritualität und Mystik.

Über Arbeit und Veranstaltungen der Ökumenischen Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche informiert die Internetseite huk.org. Mehr zu Sabine Boberts findet sich auf der Internetseite mystik-und-coaching.de.

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