Im Lande Oz

Im Lande Oz
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten - diese Woche: Wicked

"Ich kann jedes Lied auswendig mitsingen!", sagt Maren, als es losgeht.

Wir schauen "Wicked". Die Verfilmung des Musicals "Wicked - die Hexen von Oz" von 2003, das wiederum auf einen Roman von 1995 zurückgeht, der ein Prequel (also eine später geschriebene Vorgeschichte) des Films "Der Zauberer von Oz" von 1939 ist, der wiederum einen Roman von 1900 auf die Leinwand gebracht hat.

"Ich kann jedes Lied auswendig mitsingen!", sagt Maren also. Ich dagegen habe keine Ahnung. Ich habe noch nicht einmal jemals "Der Zauberer von Oz" gesehen.

In "Wicked" geht es um die beiden Hexen Glinda (gespielt von einer erblondeten Ariana Grande mit atemberaubend langen Lashes) und Elphaba (gespielt von einer hinreißenden Cynthia Erivo mit atemberaubend langen Fingernägeln).

Glinda ist die auf den ersten Blick gute, auf jeden Fall beliebte, strahlende, erfolgreiche Hexe.

Elphaba wurde mit grüner Haut geboren und deshalb von ihrem Vater und der Welt zur Außenseiterin gemacht. Sie ist eigenwillig, verletzlich, gerechtigkeitsliebend und (im Gegensatz zu Glinda) selbstlos. Sie wird gemobbt und hat starke magische Kräfte, die ihr zunächst gar nicht bewusst sind.

Am Ende des Films möchte ich Elphaba sein. Ich möchte mich wie sie auf einem Besen ins Gewitter stürzen und meine ganze Kraft spüren. "Something has changed within me / Something is not the same / I’m through with playing by the rules of someone else's game! … And if I'm flying solo / At least I'm flying free!"

Lange Zeit glaubte man, die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei. Das war ein Irrtum: Die großen Erzählungen sind zurück wie nie. Hier schreibt der Theologe Albrecht Grözinger darüber: https://www.feinschwarz.net/die-wiederkehr-der-grossen-erzaehlungen/

Mit Blick auf die große Erzählung meiner Tradition, die Bibel, stellt Grözinger fest:

"Blickt man nun auf die Bibel in ihren beiden Teilen, so fällt eine literarische Besonderheit ins Auge – die darin enthaltene Groß-Erzählung erscheint merkwürdig gebrochen. Viele Dinge werden dort mehrmals erzählt. So erscheint der Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer und die Errettung vor den Truppen des Pharao in mehrfacher Gestalt: von der Schilderung des Zurückgehens des Wassers als dort übliches Naturphänomen bis hin zum massiven Wunder-Eingreifen Gottes. Die Lebensgeschichte und das Geschick Jesu von Nazareth werden gar viermal erzählt. Und der Apostel Paulus muss sich in einem der Pastoralbriefe sagen lassen, dass er vielleicht doch zu kompliziert denke und schreibe.
Die Gottesgeschichte ist also eine doch recht merkwürdige große Erzählung. Man hat ja immer wieder versucht, etwa die vier Evangelien in ein einheitliches Super-Evangelium zu überführen ohne die Widersprüche und Spannungen, die sich aus den vier Evangelien ergeben. Es ist bezeichnend, dass sich aber solche Versuche nicht durchsetzen konnten. Offensichtlich war das theologische Gespür dafür zu groß, dass sich die Gottesgeschichte nur in verschiedenen Perspektiven erzählen lässt. Die Brüche und Spannungen in der biblischen Groß-Erzählung sind nicht Defizit, sondern Ausdruck von deren Erfahrungsgehalt."

Ein paar Tage später schließe ich endlich meine Bildungslücke und schaue "Der Zauberer von Oz" von 1939. Hier ist Elphaba die durch und durch böse Hexe, Glinda die durch und durch gute.

"Wicked" hat die Geschichte umgedreht. Elphabas grüne Haut markiert sie nun nicht mehr als "böse", sondern als "anders" - anschlussfähig für all die, die von denen, die sich für die Mehrheit halten, zu "anderen" gemacht und dämonisiert werden: queere Menschen, Schwarze Menschen, jüdische Menschen, Frauen, die den "glindaesken" Erwartungen an sie nicht gerecht werden…  Für sie alle kämpft die Elphaba aus "Wicked", sie repräsentiert sie und zeigt ihnen, welche Kraft eine haben kann, die nach ihren eigenen Rules spielt.

Glinda ist in "Wicked" die systemangepasste Figur, die die Umstände zu ihrem Vorteil nutzt. Elphaba dagegen übernimmt die anstrengende und gefährliche Arbeit, Ungerechtigkeiten aufzuzeigen und sich den Versprechen und Lügen des (Achtung! Spoiler!) korrupten Zauberers von Oz zu widersetzen.

Diese Art, Geschichten umzudrehen, zu ergänzen, noch einmal neu anzusetzen, neue Erkenntnisse einzuweben, ähnelt der Art, wie die biblischen Texte und die Bibel in ihrer Gesamtheit "die Gottesgeschichte" (Grözinger) erzählen.

Und: sie ähnelt der Art, wie etwa die Havard-Professorin Elisabeth Schüssler-Fiorenza mit ihrer "Hermeneutik des Verdachts" bestimmte Texte liest: wenn es zum Beispiel im 1.Korintherbrief heißt, dass Frauen in den Gemeindeversammlungen zu schweigen hätten, dann schließt Schüssler-Fiorenza daraus auf die Tatsache, dass es eben genau Frauen gab, die - entgegen den antiken Üblichkeiten - in den Gemeindeversammlungen gesprochen haben. Frühchristliche Elphabas sozusagen, deren Geschichten neu erzählt werden müssten.

Ich meine: Es ist für uns Christ:innen wieder einmal an der Zeit für die Entdeckung dieser und anderer Elphabas - in unseren Texten und unseren Traditionen. Zeit, etwa misogyne und gewaltermöglichende Geschichten und kirchliche und theologische Systeme neu und anders zu erzählen und zu verändern.

Denn: "As someone told me lately, everyone deserves the chance to fly."

Dafür braucht es eventuell nicht einmal einen fliegenden Besen. Phantasie und Gerechtigkeitssinn könnten genügen.

Wochenaufgabe: Ein bisschen Elphaba sein. Und zumindest eins ihrer Lieder mitsingen können.

 

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