Bevor Friseurin Stefanie Merle die Schere ansetzt, holt sie erstmal den Zollstock. Bei ihrer Kundin Saba Siami müssen 30 Zentimeter Haare ab, damit der Plan gelingt. Merle nickt Siami zu, die Länge passt. Siamis dichten, dunklen Locken geht es heute an den Kragen. Die 44-Jährige hat ihre Haare über eineinhalb Jahre bewusst wachsen lassen. Für den guten Zweck: Sie möchte ihre prächtige Mähne zur Fertigung von Perücken spenden.
"Auf Instagram habe ich Videos von jungen Mädchen gesehen, die krankheitsbedingt an Haarausfall leiden. Ihr Schicksal hat mich sehr berührt. Meine Haare wachsen schnell. Das brachte mich auf die Idee", sagt die Unternehmerin aus Ritzerau (Kreis Herzogtum Lauenburg). Auf dem Internetportal www.haare-spenden.de fand sie unter 360 Partner-Salons bundesweit den Friseur van Ruiten in Bad Oldesloe.
Die auf dem Portal registrierten Friseure schicken die gespendeten Haare ihrer Kunden an die Zweithaar-Manufaktur Rieswick im Münsterland. Die knüpft aus den Haaren Perücken nach Maß für Kunden, die aus medizinischen Gründen ihre Haare verloren haben, etwa durch eine Krebstherapie.
Das Prinzip ist einfach: Jeder kann seine Haare spenden. Die Länge der abgeschnittenen Haare muss 30 Zentimeter betragen, bei gefärbten Haaren müssen es mindestens 40 Zentimeter sein. Das Haare-wachsen-lassen ist vermutlich das größte Hindernis, denn das erfordert Geduld. Ein bis eineinhalb Zentimeter wachsen Haare pro Monat.
Perücken für Kinder und Jugendliche zahlungsfrei
Vier bis fünf Haarspenden braucht die Manufaktur Rieswick für eine Echthaar-Perücke. "Die Perücken werden im Ausland per Hand geknüpft. Das ist Aufwand und dauert entsprechend", erklärt Manufaktur-Mitarbeiterin Yvonne Buss. Kund:innen warten vier bis fünf Monate auf ihren Haarersatz. Auch der Preis ist hoch: Zwischen 1.500 und 4.500 Euro kostet eine Perücke. Aber dank der 150 bis 200 Haarspenden, die die Manufaktur täglich von den Partner-Salons bekommt, erhalten Kinder und Jugendliche bis 17 Jahren ihre Perücken zuzahlungsfrei.
Friseur-Salon-Inhaberin Marita van Ruiten schickt seit zwei Jahren etwa einmal im Monat Haare von Kund:innen an die Manufaktur. "Mein Nachbar hat lange Haare und fragte mich, ob er sie bei mir spenden könnte. Ich fand die Idee gut, habe mich informiert und schließlich mit der Manufaktur Kontakt aufgenommen", erklärt van Ruiten.
Die Kund:innen in ihrem Salon zahlen den Preis für ihren neuen Haarschnitt, den Rest übernimmt der Salon. Die abgeschnittenen Haare werden geflochten, damit sie sich beim Transport nicht verknoten, und an die Manufaktur geschickt. "Für uns ist das kaum Aufwand, aber wir tragen dazu bei, dass kranke Menschen sich wieder wohler fühlen", sagt van Ruiten.
Für Saba Siami kommt nun der spannende Moment: Sie muss sich von ihren langen Haaren verabschieden. Das fällt ihr aber nicht schwer. "Zum Schluss haben sie mich genervt", sagt sie. Friseurin Stefanie Merle bindet rund 15 einzelne Zöpfe, die sie nach und nach abschneidet. Am Ende bringt sie die kurzen Locken noch mit Föhn und Haargel in Form, fertig ist Siamis neuer Look.
"Wahnsinn, wie leicht und luftig mein Kopf sich plötzlich anfühlt", sagt sie und lacht ihrem neuen Spiegelbild zu. "Dass meine Haare so kurz werden, hätte ich allerdings nicht gedacht." Sie sei aber zufrieden und sehe auch einen großen Vorteil in dem Kurzhaarschnitt. "Morgens im Bad geht es jetzt richtig schnell."
Marita van Ruiten wartet in ihrem Salon derweil noch auf einen ganz bestimmten Kunden. Ihr Nachbar, der sie zu der Aktion motiviert hatte, konnte sich bislang noch nicht von seinen Haaren trennen.