Quantität oder Qualität? Schrumpfende oder wachsende Kirche? Jünger:innenschaft oder Mitgliedschaft? Diese Fragen tauchen oft in Diskussionen zwischen den Kirchen des Nordens und des Südens auf. Die Zukunft des globalen Christentums könnte durch einen Wandel hin zu einem stärkeren Fokus auf eine ganzheitliche Jünger:innenschaft und die Gesundheit des kirchlichen Dienstes geprägt werden, anstatt nur auf zahlenmäßiges Wachstum zu setzen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Kirche in den Randgebieten wächst, während sie im Zentrum ausstirbt.
Historisch betrachtet war das Christentum stark mit Europa und später Nordamerika verbunden, also Bereichen, die oft als " weißer Westen" bezeichnet wurden. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Zentrum des Christentums jedoch in den Globalen Süden verlagert, also in Regionen wie Lateinamerika, Afrika und Asien. Diese Verschiebung reflektiert nicht nur ein Wachstum der christlichen Bevölkerung in diesen Gebieten, sondern auch eine zunehmende Bedeutung und Eigenständigkeit dieser Kirchen.
Traditionell waren viele Kirchen eng mit den politischen Mächten ihrer Zeit verbunden, insbesondere während der Kolonialzeit. "Christenheit" bezeichnet diese Verschmelzung, bei der Kirche und staatliche Machtstrukturen zusammenarbeiten oder sogar als Einheit agieren. Der Globale Süden ist nun herausgefordert, sich von dieser historischen Last zu lösen, um nicht dieselben Fehler zu wiederholen und die Kirche als von politischen und kolonialen Einflüssen unabhängige Kraft zu etablieren.
Neudefinition im eigenen Kontext
Die Kirche im Globalen Norden wurde oft von Strukturen geprägt, die bestimmte Privilegien aufrechterhielten und mit Diskriminierung einhergingen. Beispiele sind rassistische und geschlechtsspezifische Hierarchien, die in Kirche und Gesellschaft verankert sind. Diese Strukturen führten oft zu Entfremdung und Abwendung vieler Gläubigen. Kirchen im Süden haben die Möglichkeit, sich bewusst für Inklusivität und Gleichheit zu entscheiden und damit eine attraktivere und gerechtere Gemeinschaft zu schaffen.
Die Kirchen im Globalen Süden sind aufgefordert, ihr eigenes Profil zu entwickeln, das stärker auf ihre kulturellen und sozialen Kontexte zugeschnitten ist. Anstatt westliche Modelle unkritisch zu übernehmen, könnten sie eigene Wege in Theologie und Praxis finden, die ihre einzigartigen lokalen Realitäten und Herausforderungen berücksichtigen. Die Kirchen aus dem Globalen Süden haben die Chance, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, um eine gerechtere und inklusivere Kirche zu schaffen.
Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt
Trotz sozialer und politischer Herausforderungen, wie Armut und Unruhen, die externen Druck auf die Kirchen im Süden ausüben, ist die Missinterpretation heiliger Schriften eine der zentralen kirchlichen Herausforderungen. Themen wie Heilung, Wohlstand und "geistige Kraft" werden teils missbraucht, um Menschen zu kontrollieren, statt ihre Würde zu achten. Das Alte Testament lehrt, dass wir alle nach dem Bild Gottes ("imago Dei") geschaffen sind – ohne Ausnahme. Leider wurde die Bibel historisch oft instrumentalisiert, um Diskriminierung zu rechtfertigen. Während nur wenige heute offenen Sexismus dulden, existieren weiterhin kirchliche Strukturen, die Frauen benachteiligen. Diese Umfelder begünstigen oft Machtmissbrauch. In patriarchalen Gesellschaftsstrukturen gelten Frauen als Versuchung, deren Verhalten streng kontrolliert wird, während gleichzeitig die Bibel zum Schutz vor Diskriminierung genutzt wird.
Der Begriff "Machtmissbrauch" ist auch im Norden nicht unbekannt, insbesondere dank Untersuchungen in katholischen und evangelischen Kirchen. Historisch ist Sexismus ein vorherrschendes Problem gewesen, das Frauen benachteiligt und marginalisiert hat. Wie Rassismus ist Sexismus tief in Institutionen verankert, die die Vorteile biologischer Männer auf Kosten der Partizipation von Frauen in der Kirche zentrieren.
Das Problem des Patriarchats ist deutlich zu benennen. Es geht nicht nur um die klassische Sichtweise auf Geschlechterunterschiede. Selbst wo keine Rollenunterscheidung propagiert wird, kann eine männlich dominierte Kultur Frauen marginalisieren und ihre Berufung untergraben. Fragen zur Geschlechteridentität, wie LGBTQIA+-Rechte, stehen weiterhin im Vordergrund. Kirchenleitende können komplexe Fragen nicht länger umgehen und müssen sich auch kritisch mit Sexualität auseinandersetzen.
Christlicher Regionalismus
Schauen wir noch auf einen anderen Aspekt, der für das Thema "Rassismus" relevant ist und auf den die Gemeinde schauen sollte: Viele Opfer sind schon traumatisiert. Das wäre für eine Gemeinde sehr herausfordernd, konkret mit so einem Fall konfrontiert zu werden. Und viele Gemeinden wären damit auch überfordert, sich der Realität zu stellen und die Wahrheit zu akzeptieren. Und dennoch gibt es als Gemeinde Möglichkeiten des Umgangs damit, indem man vielleicht aus traumatischen Erfahrungen anderer lernt, die Geschichte des Rassismus gemeinsam bearbeitet, dazu Bibeltexte gemeinschaftlich liest, die zeigen, dass der Sinn des Lebens auch in praktizierter Inklusivität besteht, gemeinsam Exkursionen mit Menschen aus anderen Ländern unternimmt, um Diversitätsbewusstsein anzuregen, gemeinsam die antikoloniale Sprache fördert usw. Keine Kirchengemeinde ist so schwach, dass sie nicht mit einem dieser Vorschläge anfangen könnte.
Ethnizität und Regionalismus können zu einer Spaltung innerhalb der christlichen Gemeinschaft führen. Die ideologische Verführung durch christlichen Regionalismus und Nationalismus entsteht, wenn nationale oder örtliche Identitäten den Aufruf Jesu, alle willkommen zu heißen, verdrängen. Die Essenz des christlichen Regionalismus ist Fremdenfeindlichkeit – die Angst vor dem Anderen. In einigen Regionen können Amtsträger*innen nur aus ihren eigenen Gemeinden kommen, während Politiker*innen kulturelle Barrieren leichter überwinden.
Nur durch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen kann die Kirche im Globalen Süden eine andere, konstruktivere Zukunft erleben als jene, die der Globale Norden vorgelebt hat.
evangelisch.de dankt der Evangelischen Mission Weltweit und mission.de für die inhaltliche Kooperation.